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kapitel 1 - adamas.ai

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Meine Damen und Herren, Amerika führt einen Krieg an vielen Fronten, aber unser Land ist nirgends stärker<br />

gefährdet als hier in der Heimat. Sei es, dass wir von Terroristen angegriffen werden oder von jenen, die mit<br />

ihnen sympathisieren.“<br />

Ein Reporter hob die Hand und fragte: „General Sutherland, sie wollen doch sicherlich nicht behaupten, dass<br />

diese Kinder, bloß weil sie eine Party im Park besucht haben, Terror-Sympathisanten sind?“<br />

„Natürlich nicht. Aber wenn junge Menschen unter den Einfluss der Feinde unseres Landes geraten, wächst<br />

ihnen so eine Sache schnell über den Kopf. Terroristen würden liebend gern eine fünfte Kolonne rekrutieren,<br />

die für sie den Krieg an der Heimatfront führt. Wären dies meine Kinder, ich würde mir ernsthaft Sorgen<br />

machen.“<br />

Ein anderer Reporter griff den Faden auf. „Aber wir reden hier lediglich von einem Open-Air-Konzert, General.<br />

Es fand wohl kaum Drill mit Gewehren statt.“<br />

Der General holte einen Stoß Fotos hervor und begann sie emporzuhalten. „Dies sind Fotos, die Beamte mit Infrarot-Kameras<br />

aufgenommen haben, bevor sie dort vorrückten.“ Er hob sie zu seinem Gesicht empor und blätterte<br />

eins nach dem anderen auf. Es waren wild tanzende Menschen zu sehen, so wild, dass sie andere umrempelten<br />

oder auf sie traten. Dann folgten Sex-Szenen bei den Bäumen, ein Mädchen mit drei Typen, zwei knutschende<br />

Jungs. „Bei diesem Event waren Kinder anwesend, die teilweise nicht älter als zehn Jahre waren. Ein tödlicher<br />

Cockt<strong>ai</strong>l aus Drogen, Propaganda und Musik hat zu Dutzenden Verletzten geführt. Es grenzt an ein Wunder,<br />

dass keine Toten zu beklagen sind.“<br />

Ich schaltete den Fernseher aus. Sie stellten es dar, als wäre es ein Aufstand gewesen. Wenn meine Eltern ahnten,<br />

dass ich auch dort war, würden sie mich einen Monat lang ans Bett binden und mich hinterher nur noch mit<br />

einem Funkhalsband wieder rauslassen.<br />

A propos: sie würden ziemlich angepisst sein, wenn sie rausfanden, dass ich freigestellt war.<br />

x<br />

Sie nahmen es jedenfalls nicht gut auf. Dad wollte mich zur Schnecke machen, aber Mom und ich konnten es ihm<br />

noch ausreden.<br />

„Du weißt genau, dass dieser Konrektor es schon seit Jahren auf Marcus abgesehen hat“, sagte Mom. „Als wir ihn<br />

das letzte Mal sprachen, hast du hinterher eine Stunde lang über ihn geflucht. Ich erinnere mich, dass mehrfach<br />

das Wort ‚Arschloch‘ gefallen ist.“<br />

Dad schüttelte den Kopf. „Den Unterricht zu unterbrechen, um gegen die Heimatschutzbehörde zu wettern …“<br />

„Es ist ein Gesellschaftskunde-Kurs, Dad.“ Mir war mittlerweile alles egal, aber ich fand, wenn mir Mom schon in<br />

die Bresche sprang, dann sollte ich sie nicht hängen lassen. „Wir haben über das DHS gesprochen. Ist Diskutieren<br />

denn nichts Gutes mehr?“<br />

„Hör mal, Sohn“, sagte er. In letzter Zeit sagte er viel zu oft „Sohn“ zu mir. Fühlte sich an, als ob er aufgehört<br />

hätte, mich als Person zu betrachten, und mich stattdessen als so ne Art halbfertige Larve sah, die Führung und<br />

Anleitung beim Entpuppen brauchte. Ich hasste das. „Du wirst dich endlich an die Tatsache gewöhnen müssen,<br />

dass wir heute in einer veränderten Welt leben. Du hast selbstverständlich immer noch das Recht, deine Meinung<br />

zu äußern, aber du musst bereit sein, die Konsequenzen daraus zu tragen. Du musst endlich begreifen, dass es<br />

da draußen Leute gibt, die leiden und die nicht gewillt sind, die Feinheiten des Verfassungsrechts zu diskutieren,<br />

während ihr Leben bedroht ist. Wir sitzen jetzt im Rettungsboot, und wenn man im Rettungsboot sitzt, will niemand<br />

was darüber hören, wie gemein der Käptn ist.“<br />

Viel fehlte nicht, und ich hätte mit den Augen gerollt.<br />

„Na, jedenfalls habe ich die Aufgabe, zwei Wochen lang unabhängig Studien zu treiben und in jedem Fach einen<br />

Aufsatz zu schreiben, der die Stadt als Hintergrund hat – einen Aufsatz in Geschichte, einen in Gesellschaftskunde,<br />

einen in Englisch und einen in Physik. Ist allemal besser, als tagsüber vor der Glotze zu hängen.“<br />

Dad sah mich prüfend an, als erwarte er, dass ich auf irgendwas hinauswolle, dann nickte er. Ich sagte ihnen<br />

Gute Nacht und verzog mich in mein Zimmer. Dort warf ich die Xbox an, startete eine Textverarbeitung und<br />

fing an, Ideen für meine Aufsätze zu sammeln. Warum auch nicht? Das war wirklich besser, als bloß daheim<br />

herumzusitzen.<br />

x<br />

00<br />

Cory Doctorow: Little Brother x

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