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kapitel 1 - adamas.ai

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Ich zog mein Exemplar des „Bay Guardian“ unterm Arm hervor und wedelte ihnen damit vor der Nase rum.<br />

„Schlagt einfach mal Seite 5 auf, ja?“<br />

Sie taten es. Sie betrachteten die Schlagzeile. Das Foto. Mich.<br />

„Ooh, Alter!“, sagte der erste. „Wir sind sooo unwürdig.“ Er grinste mich an wie völlig durchgeknallt, und der<br />

Stämmigere klopfte mir auf den Rücken.<br />

„Isnichwahr“, sagte er. „Du bist M…“<br />

Ich hielt ihm den Mund zu. „Kommt mal hier rüber, okay?“ Ich schleppte sie zu meiner Bank zurück. Dabei fielen<br />

mir alte, braune Flecken auf dem Bürgersteig darunter ins Auge. Darryls Blut? Ich bekam Gänsehaut. Wir setzten<br />

uns hin.<br />

„Ich bin Marcus“, sagte ich. Es kostete mich einige Überwindung, diesen beiden, die mich schon als M1k3y kannten,<br />

meinen Realnamen zu nennen. Ich gab damit meine Deckung auf, aber gut, der „Bay Guardian“ hatte die Verbindung<br />

ja ohnehin schon hergestellt.<br />

„Nate“, sagte der Kleine. „Liam“, sagte der Große. „Alter, es ist sooo eine Ehre, dich zu treffen. Du bist echt unser<br />

Über-Held …“<br />

„Sagt das nicht, bitte sagt das nicht. Und ihr zwo seid echt eine Leuchtreklame, die sagt, ‚Ich jamme, bitte verfrachtet<br />

meinen Arsch nach Gitmo-an-der-Bay. Ihr könntet echt nicht mehr auffälliger sein.“<br />

Liam machte ein Gesicht, als wolle er gleich losheulen.<br />

„Keine Sorge, sie haben euch ja nicht erwischt. Ich geb euch später ein paar Tips.“ Schon strahlte er wieder. Die<br />

beiden, das war eine merkwürdige Erkenntnis, schienen M1k3y wirklich zu vergöttern, und sie würden alles tun,<br />

was ich ihnen sagte. Sie grinsten beide wie grenzdebil. Ich fühlte mich unwohl dabei, mir drehte das fast den<br />

Magen um.<br />

„Hört mal, ich muss jetzt sofort mal ins Xnet, aber ohne dafür nach Hause gehen zu müssen oder auch nur in die<br />

Nähe. Wohnt ihr beiden hier in der Gegend?“<br />

„Ich“, sagte Nate. „Oben in California Street. Is ne Ecke zu laufen – steile Hügel.“ Das war ich grade erst den ganzen<br />

Weg runtergekommen. Irgendwo da oben war Masha. Trotzdem – es war besser als alles, was ich erwarten durfte.<br />

„Gehn wir“, sagte ich.<br />

x<br />

Nate lieh mir sein Baseball-Cap, und wir tauschten die Jacken. Um Schritterkennung musste ich mich nicht kümmern,<br />

nicht bei diesen Schmerzen in meinem Knöchel – ich humpelte wie ein Komparse in einem Cowboyfilm.<br />

Nate lebte in einem riesigen Apartment am oberen Ende von Nob Hill. Das Gebäude hatte einen Portier im roten<br />

Mantel mit Goldbrokat, der sich an die Mütze tippte, zu Nate „Mr. Nate“ sagte und uns alle willkommen hieß. Das<br />

Apartment war makellos und roch nach Möbelpolitur. Ich bemühte mich sehr, mir nicht anmerken zu lassen, wie<br />

sehr mich diese offenkundig mehrere Millionen Dollar teure Eigentumswohnung beeindruckte.<br />

„Mein Vater“, erklärte er. „Er war ein Investmentbanker. Massig Lebensversicherungen. Er ist gestorben, als ich<br />

vierzehn war, und wir bekamen alles. Sie waren zwar seit Jahren geschieden, aber er hatte trotzdem meine Mutter<br />

als Begünstigte eingesetzt.“<br />

Aus dem wandhohen Fenster hatte man einen gigantischen Blick auf die andere Seite von Nob Hill, ganz bis runter<br />

nach Fisherman’s Wharf, zum hässlichen Stumpf der Bay Bridge, der Masse von Kränen und Lastern. Durch den<br />

Nebel konnte ich gerade eben Treasure Island erkennen. Ganz bis dort hinunter zu schauen weckte in mir das<br />

verrückte Bedürfnis zu springen.<br />

Ich ging mit seiner Xbox über einen riesigen Plasma-Monitor im Wohnzimmer online. Er zeigte mir, wie viele<br />

offene WLANs von diesem hohen Standpunkt aus sichtbar waren – zwanzig, dreißig. Das hier war ein guter Platz<br />

für einen Xnetter.<br />

Mein M1k3y-Postfach war enorm voll. 20.000 neue Nachrichten, seit Ange und ich heute früh aufgebrochen waren.<br />

Viele waren von Journalisten, die weitere Interviews anfragten, aber das meiste war von den Xnettern, von Leuten,<br />

die die Guardian-Story gelesen hatten und mir mitteilen wollten, dass sie alles tun würden, um mir zu helfen, mich<br />

mit allem versorgen wollten, was ich brauchte.<br />

Das gab mir den Rest. Tränen liefen mir die Wangen runter.<br />

Cory Doctorow: Little Brother x

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