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„Ich gehe grade zu einer Verabredung mit einer investigativen Journalistin, die eine Story darüber drucken will,<br />
wie ich in den Knast gekommen bin, wie ich das Xnet ins Leben gerufen habe und wie Darryl vom DHS widerrechtlich<br />
in einem Geheimknast auf Treasure Island gefangen gehalten wird.“<br />
„Oh.“ Sie blickte sich kurz um. „Hättest du dir nicht auch was … Ehrgeiziges ausdenken können?“<br />
„Kommst du mit?“<br />
„Ich komm mit, ja. Und wenns dir nichts ausmacht, könntest du mir auf dem Weg dahin auch schon mal alles im<br />
Det<strong>ai</strong>l erklären.“<br />
Nach all den wiederholten Erzählungen fiel mir diese am leichtesten; während wir zur Potrero Avenue und runter<br />
zur 15. Straße liefen, hielt sie meine Hand und drückte sie häufig.<br />
Wir nahmen zu den Büroräumen des „Bay Guardian“ hoch immer zwei Treppenstufen auf einmal. Mein Herz wummerte.<br />
Ich kam am Empfangstresen an und sagte dem gelangweilten Mädchen dahinter: „Ich bin hier mit Barbara<br />
Stratford verabredet. Mein Name ist Mr. Green.“<br />
„Ich nehme an, Sie meinen Mr. Brown?“<br />
„Ja.“ Ich errötete. „Mr Brown.“<br />
Sie machte irgendwas an ihrem Computer und sagte dann: „Nehmen Sie Platz. Barbara wird in einer Minute bei<br />
Ihnen sein. Kann ich Ihnen irgendetwas anbieten?“<br />
„Kaffee“, sagten wir wie aus einem Mund. Noch ein Grund, Ange zu lieben: Wir waren von derselben Droge<br />
abhängig.<br />
Die Rezeptionistin – eine hübsche Latina, kaum älter als wir, in Gap-Klamotten so alt, dass sie schon wieder retroschick<br />
waren – nickte, ging hinaus und kam mit zwei Bechern zurück, die mit dem Logo der Zeitung bedruckt<br />
waren.<br />
Wir schlürften still vor uns hin und beobachteten das Kommen und Gehen von Besuchern und Reportern. Endlich<br />
kam Barbara auf uns zu. Sie trug ziemlich genau das Gleiche wie in der Nacht zuvor. Stand ihr gut. Sie hob eine<br />
Augenbraue, als sie sah, dass ich jemanden mitgebracht hatte.<br />
„Hallo“, sagte ich. „Äh, das ist …“<br />
„Ms. Brown“, warf Ange ein und streckte ihr die Hand entgegen. Ach klar, unsere Identitäten sollten ja geheim<br />
bleiben. „Ich arbeite mit Mr. Green zusammen.“ Sie stupste mich mit dem Ellenbogen an.<br />
„Gehen wir also“, sagte Barbara und führte uns in einen Konferenzraum mit langen Glaswänden, deren Jalousien<br />
geschlossen waren. Sie legte ein Tablett voller Whole-Foods-Biokekse, einen Digitalrecorder und wieder einen<br />
gelben Block auf den Tisch.<br />
„Möchtest du, dass ich das hier auch aufzeichne?“, fragte sie.<br />
Hatte mir darüber echt noch keine Gedanken gemacht. Mir war klar, dass es nützlich sein könnte, wenn ich nachträglich<br />
dementieren wollte, was Barbara gedruckt haben würde. Trotzdem: Wenn ich mich nicht drauf verlassen<br />
konnte, dass sie meine Aussagen korrekt behandelte, dann war ich sowieso geliefert.<br />
„Nein, ist schon okay“, sagte ich.<br />
„Nun gut, dann los. Junge Dame, mein Name ist Barbara Stratford, und ich bin eine investigative Reporterin. Ich<br />
vermute, dass Sie wissen, warum ich hier bin, und es würde mich interessieren zu erfahren, warum Sie hier sind.“<br />
„Ich arbeite mit Marcus im Xnet. Müssen Sie meinen Namen wissen?“<br />
„Jetzt noch nicht unbedingt“, sagte Barbara. „Sie können anonym bleiben, wenn Sie möchten. Marcus, ich hatte<br />
dich gebeten, mir diesen Teil der Geschichte zu erzählen, weil ich wissen muss, wie sie mit der Geschichte über<br />
deinen Freund Darryl und den Zettel, den du mir gezeigt hast, zusammenpasst. Ich könnte mir vorstellen, dass sie<br />
eine gute Dreingabe wäre: Ich könnte sie als den Ursprung des Xnet darstellen. ‚Sie machten sich einen Feind, den<br />
sie nie vergessen werden‘, etwas in dieser Art. Aber ehrlich gesagt würde ich diese Story lieber nicht erzählen,<br />
wenn es sich irgendwie vermeiden lässt.<br />
Ich hätte viel lieber eine hübsche, saubere Geschichte über das Geheimgefängnis vor unserer Haustür, ohne darauf<br />
eingehen zu müssen, inwiefern die Gefangenen dort die Sorte Leute sind, die, kaum draußen, sofort eine Untergrundbewegung<br />
ins Leben rufen, um die Regierung zu destabilisieren. Ich bin sicher, das wirst du verstehen.“<br />
x Cory Doctorow: Little Brother