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kapitel 1 - adamas.ai

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Sie meinten es ernst. Ich beendete meinen Kerouac-Aufsatz und fing einen Text über den Sommer der Liebe an,<br />

den Sommer 1967, als die Antikriegsbewegung und die Hippies in San Francisco zusammenkamen. Die Gründer<br />

von Ben and Jerry’s, selbst alte Hippies, hatten ein Hippie-Museum im H<strong>ai</strong>ght gegründet, und es gab noch mehr<br />

Archive und Ausstellungen überall in der Stadt.<br />

Aber dorthin zu kommen war nicht einfach. Am Ende der Woche wurde ich bereits durchschnittlich vier Mal täglich<br />

gefilzt. Bullen checkten meinen Ausweis und fragten mich, was ich auf der Straße zu tun hätte, wobei sie dem<br />

Brief von Chavez über meine Suspendierung immer besondere Aufmerksamkeit schenkten.<br />

Ich hatte Glück. Niemand verhaftete mich. Aber die anderen im Xnet hatten nicht so viel Glück. Jeden Abend<br />

verkündete das DHS neue Verhaftungen; „Rädelsführer“ und „Mitläufer“ des Xnet, Leute, von denen ich noch nie<br />

gehört hatte, wurden im Fernsehen vorgeführt, zusammen mit ihren RFID-Sensoren und anderen Gerätschaften,<br />

die man bei ihnen gefunden hatte. Das DHS behauptete, diese Leute würden „Namen nennen“ und das Xnet „bloßstellen“;<br />

man erwarte in Kürze weitere Verhaftungen. Der Name „M1k3y“ fiel häufig.<br />

Dad fand das alles toll. Er und ich sahen zusammen die Nachrichten, er mit diebischer Freude, ich im inneren<br />

Rückzug, insgeheim halb wahnsinnig werdend. „Du müsstest mal das Zeug sehen, das sie gegen diese Kids einsetzen<br />

werden“, sagte Dad. „Ich habe es schon in Aktion gesehen. Wenn sie eine Handvoll dieser Kids haben, dann<br />

gehen sie ihre Buddy-Listen im Messenger und die Kurzwahlen in den Handys durch und suchen nach Namen, die<br />

immer wieder mal auftauchen, nach Mustern, und so erwischen sie immer mehr von ihnen. Sie werden das Xnet<br />

auseinanderdröseln wie einen alten Pullover.“<br />

Ich sagte Anges Abendessen bei uns ab und verbrachte stattdessen noch mehr Zeit bei ihr. Anges kleine Schwester<br />

Tina fing an, mich den „Hausgast“ zu nennen, und sagte Sachen wie „Isst der Hausgast heute mit mir zu Abend?“<br />

Ich mochte Tina. Sie interessierte sich eigentlich nur fürs Ausgehen, Feiern und Jungstreffen, aber sie war witzig<br />

und völlig vernarrt in Ange. Als wir einmal abends das Geschirr abräumten, trocknete sie ihre Hände ab und sagte<br />

beiläufig: „Weißt du, Marcus, du scheinst ja ein netter Typ zu sein. Meine Schwester ist total in dich verknallt, und<br />

ich mag dich auch ganz gern. Aber ich muss dir eins sagen: Wenn du ihr das Herz brichst, dann erwisch ich dich<br />

und stülp dir deinen eigenen Hodensack über den Kopf. Und das sieht nicht schön aus.“<br />

Ich versicherte ihr, eher würde ich mir selbst meine Hoden übern Kopf ziehen, als Anges Herz zu brechen, und sie<br />

nickte. „So lange das mal klar ist.“<br />

„Deine Schwester ist ein bisschen bekloppt“, sagte ich, als wir wieder auf Anges Bett lagen und Xnet-Blogs lasen.<br />

Viel was sonst machten wir nicht – rumgammeln und Xnet lesen.<br />

„Oh, hat sie die Sack-Nummer gebracht? Ich hasse es, wenn sie das macht. Weißt du, sie findet das Wort „Hodensack“<br />

einfach klasse. Nimms nicht persönlich.“<br />

Ich küsste sie, und wir lasen weiter.<br />

„Hör mal“, sagte sie. „Die Polizei rechnet für dieses Wochenende mit vier- bis sechshundert Verhaftungen im Rahmen<br />

des, wie sie sagen, bislang größten abgestimmten Einsatzes gegen Xnet-Dissidenten.“<br />

Mir kam das Essen hoch.<br />

„Wir müssen das abbrechen“, sagte ich. „Weißt du, dass es sogar Leute gibt, die jetzt noch mehr jammen, bloß um<br />

zu zeigen, dass sie sich nicht einschüchtern lassen? Ist das nicht völlig bescheuert?“<br />

„Ich find, es ist mutig. Wir können es doch nicht zulassen, dass die uns einschüchtern bis zur Unterwerfung.“<br />

„Wie bitte? Nein, Ange, nein. Wir können nicht zulassen, dass Hunderte von Leuten im Knast enden. Du warst<br />

nicht da. Ich schon. Und es ist schlimmer, als du denkst: Es ist sogar schlimmer, als du es dir vorstellen kannst.“<br />

„Ach, ich habe eine ziemlich lebhafte Fantasie.“<br />

„Hör auf damit, ja? Sei doch mal einen Moment ernsthaft. Ich mach das nicht. Ich schicke keine Leute ins Gefängnis.<br />

Wenn ich das tue, dann bin ich genau der Typ, für den Van mich hält.“<br />

„Marcus, ich meine das ernst. Denkst du etwa, diese Jungs wissen nicht, dass sie möglicherweise ins Gefängnis<br />

kommen? Hey, die glauben an die Sache. Du glaubst doch auch dran. Du kannst ihnen ruhig zugestehen, dass sie<br />

wissen, was sie da tun. Die brauchen dich nicht, um zu entscheiden, welches Risiko sie eingehen können und welches<br />

nicht.“<br />

„Es ist aber meine Verantwortung, weil sie damit aufhören, wenn ich es ihnen sage.“<br />

„Ich dachte, du bist nicht der Anführer?“<br />

Cory Doctorow: Little Brother x

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