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trat schützend zwischen uns und die Kamera. Ange kam zögernd und leicht schwankend heraus. Mit ihren Augen<br />
und ihrem Gesicht stimmte etwas nicht. Sie weinte, aber das wars nicht.<br />
„Die haben mir Medikamente gegeben“, sagte sie. „Als ich nicht aufgehört habe, nach einem Anwalt zu schreien.“<br />
Ich zog sie in meine Arme. Sie ließ sich fallen, aber sie erwiderte die Umarmung. Sie roch miefig und verschwitzt,<br />
und ich roch nicht besser. Ich wollte sie nie wieder loslassen.<br />
Und dann öffneten sie Darryls Zelle.<br />
Er hatte seinen papiernen Krankenhauskittel zerrissen. Nackt lag er zusammengerollt in der hintersten Ecke der<br />
Zelle und versuchte sich vor der Kamera und unseren Blicken zu verbergen. Ich rannte zu ihm.<br />
„D“, flüsterte ich ihm ins Ohr. „D, ich bins. Marcus. Es ist vorbei. Die Wachen sind verhaftet. Wir kommen auf Kaution<br />
raus, wir gehen nach Hause.“<br />
Er zitterte und kniff die Augen zu. „Es tut mir Leid“, flüsterte er und drehte sein Gesicht zur Wand.<br />
Dann brachten sie mich weg, ein Polizist in Panzerweste und Barbara; sie brachten mich zu meiner Zelle und verschlossen<br />
die Tür, und dort verbrachte ich die Nacht.<br />
x<br />
An die Fahrt zum Gerichtsgebäude erinnere ich mich nur vage. Sie hatten mich an fünf andere Gefangene gekettet,<br />
die alle schon viel länger eingesessen hatten als ich. Einer sprach nur Arabisch – er war ein alter Mann, und er zitterte.<br />
Die anderen waren alle jung. Ich war der einzige Weiße. Als wir alle auf dem Deck der Fähre zusammengepfercht<br />
waren, sah ich, dass fast jeder auf Treasure Island eine mehr oder weniger braune Hautfarbe hatte.<br />
Ich war nur eine Nacht drin gewesen, aber das war schon zu lange. Ein leichter Nieselregen perlte auf uns herunter,<br />
normalerweise die Sorte Wetter, bei dem ich die Schultern einzog und auf den Boden guckte; aber heute<br />
reckte ich wie alle anderen meinen Hals nach dem unendlichen grauen Himmel und genoss die stechende Nässe,<br />
während wir über die Bay und den Fähranlegern entgegenbrausten.<br />
Sie fuhren uns in Bussen weiter. Die Fesseln machten das Einsteigen mühselig, und es dauerte eine Ewigkeit, bis<br />
alle eingestiegen waren. Niemanden kümmerte es. Wenn wir uns nicht gerade abmühten, das geometrische Problem<br />
„Sechs Mann, eine Kette, schmaler Gang“ zu lösen, dann betrachteten wir bloß die Stadt um uns herum, die<br />
vielen Häuser oben auf dem Hügel.<br />
Alles, woran ich denken konnte, war, Darryl und Ange zu finden, aber keiner von beiden war zu sehen. Es war eine<br />
riesige Menge, und es war uns nicht erlaubt, uns frei darin zu bewegen. Die Nationalgardisten, die sich um uns<br />
kümmerten, waren einigermaßen freundlich, aber sie waren nichtsdestotrotz groß, gepanzert und bewaffnet. Ich<br />
dachte ständig, ich würde Darryl in der Menge sehen, aber es war immer jemand anderer mit demselben geprügelten,<br />
gebeugten Ausdruck, den ich an ihm in seiner Zelle gesehen hatte. Er war nicht der einzige Gebrochene hier.<br />
Im Gerichtsgebäude führten sie uns in unseren Fesselgrüppchen in Befragungsräume. Eine ACLU-Anwältin nahm<br />
unsere Daten auf, stellte uns einige Fragen – als ich an der Reihe war, lächelte sie und begrüßte mich mit Namen<br />
– und führte uns dann in den Gerichtssaal und vor den Richter. Er trug eine richtige Robe und schien gut gelaunt<br />
zu sein.<br />
Es schien vereinbart zu sein, dass jeder, für den ein Familienmitglied Kaution hinterlegen konnte, freigelassen<br />
wurde und alle anderen ins Gefängnis kamen. Die ACLU-Anwältin redete auf den Richter ein und bat um einige<br />
Stunden Aufschub, während derer die Angehörigen der Gefangenen aufgetrieben und zum Gerichtsgebäude<br />
gebracht wurden. Der Richter war ziemlich wohlwollend, aber als mir klar wurde, dass einige von den Leuten<br />
hier schon seit dem Tag des Attentats inhaftiert waren, ohne jedes Verfahren, Verhören, Isolation und Folter ausgeliefert,<br />
während ihre Familien sie tot glaubten, da hätte ich nur noch die Ketten zerreißen und sie alle einfach<br />
freilassen mögen.<br />
Als ich dem Richter vorgeführt wurde, sah er auf mich herunter und nahm seine Brille ab. Er sah müde aus. Die<br />
ACLU-Anwältin sah müde aus. Die Gerichtsdiener sahen müde aus. Hinter mir konnte ich ein plötzliches Aufbranden<br />
von Gesprächen hören, als ein Gerichtsdiener meinen Namen verlas. Der Richter pochte einmal mit seinem<br />
Hammer, ohne den Blick von mir abzuwenden. Er rieb sich über die Augen.<br />
„Mr. Yallow“, sagte er, „die Anklage hat Sie als fluchtverdächtig eingestuft. Ich denke, das ist nicht von der Hand<br />
zu weisen. Sie haben mehr, sagen wir mal, Geschichte als die anderen Leute hier. Ich bin versucht, Sie bis zum<br />
Verfahren festzusetzen, unabhängig davon, wie viel Kaution Ihre Eltern zu hinterlegen bereit sind.“<br />
Cory Doctorow: Little Brother x