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kapitel 1 - adamas.ai

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Dads Laptop und schaute die Seiten durch. Vollgekleistert mit Anzeigen, logisch, und Bilder von Vermissten, meist<br />

Schulabschluss-Fotos, Hochzeitsfots und derlei Sachen. Insgesamt ziemlich gruselig.<br />

Ich fand mein Bild und sah, dass es mit Vans, Jolus und Darryls verknüpft war. Es gab ein kleines Formular, mit dem<br />

man Leute als gefunden kennzeichnen konnte, und ein anderes, das für Notizen über andere Vermisste gedacht<br />

war. Ich füllte die Felder für mich, Jolu und Van aus und ließ Darryls leer.<br />

„Du hast Darryl vergessen“, sagte Dad. Er mochte Darryl nicht besonders, seit er mal bemerkt hatte, dass in einer<br />

der Flaschen in seinem Spirituosenschrank ein paar Zoll fehlten und ich es – das ist mir heute noch peinlich – auf<br />

Darryl geschoben hatte. In Wirklichkeit waren wirs beide gewesen, nur so zum Spaß, ein paar Wodka-Cola beim<br />

nächtelangen Computerspielen.<br />

„Er war nicht bei uns“, sagte ich. Die Lüge ging mir schwer über die Lippen.<br />

„O mein Gott“, sagte Mom. Sie krallte ihre Hände ineinander. „Als du kamst, hatten wir angenommen, dass ihr alle<br />

zusammen wart.“<br />

„Nein“, log ich weiter. „Nein, er wollte uns treffen, aber er kam nicht. Wahrscheinlich sitzt er noch in Berkeley<br />

fest. Er wollte die BART rüber nehmen.“<br />

Mom gab ein leises Wimmern von sich, und Dad schüttelte den Kopf und schloss die Augen. „Hast du noch nicht<br />

von der BART gehört?“, fragte er.<br />

Ich schüttelte den Kopf. Ich ahnte, was nun kommen würde, und es fühlte sich an, als ob mir jemand den Boden<br />

unter den Füßen wegzog.<br />

„Sie haben sie gesprengt“, sagte Dad. „Die Bastarde haben sie hochgejagt, zur selben Zeit wie die Brücke.“<br />

Das hatte nun nicht auf der ersten Seite des Chronicle gestanden, aber schließlich war auch eine BART-Explosion<br />

im Unterwasser-Tunnel vermutlich nicht halb so bildgewaltig wie die Brücke, wie sie da in Fetzen über der Bay<br />

hing. Der BART-Tunnel vom Embarcadero in San Francisco bis rüber zur Station West Oakland war überflutet.<br />

Ich ging wieder an Dads Computer und surfte auf den Nachrichtenseiten. Niemand wusste Genaues, aber die<br />

Opferzahl ging in die Tausende. Von den Autos, die 60 Meter tief ins Meer gestürzt waren, zu den Menschen, die<br />

in Zügen ertranken: die Opferzahlen stiegen noch. Ein Reporter behauptete, er habe einen „Identitätsfälscher“<br />

interviewt, der „Dutzenden“ von Menschen dabei geholfen habe, nach den Anschlägen einfach aus ihrem alten<br />

Leben zu verschwinden – die ließen sich neue IDs machen und ließen unglückliche Ehen, drückende Schulden<br />

und missratene Lebensläufe einfach hinter sich.<br />

Dad hatte tatsächlich Tränen in den Augen, und Mom weinte hemmungslos. Beide umarmten sie mich noch mal<br />

und betätschelten mich, als wollten sie sich vergewissern, dass ichs tatsächlich war. Sie hörten nicht auf, mir zu<br />

sagen, dass sie mich liebten. Ich sagte ihnen, ich liebte sie auch.<br />

Es war ein tränenreiches Abendessen, und Mom und Dad tranken beide ein paar Gläser Wein, was für ihre Verhältnisse<br />

viel war. Dann sagte ich ihnen, ich sei todmüde, was nicht gelogen war, und stratzte in mein Zimmer rauf.<br />

Aber ins Bett ging ich nicht. Ich musste noch mal online gehen und rausfinden, was eigentlich los war. Ich musste<br />

mit Jolu und Vanessa reden. Und ich musste mit der Suche nach Darryl beginnen.<br />

Ich schlich also zu meinem Zimmer hoch und öffnete die Tür. Mein altes Bett hatte ich jetzt gefühlte tausend Jahre<br />

nicht gesehen. Ich legte mich drauf und langte zum Nachttisch, um meinen Laptop zu holen.Vermutlich hatte ich<br />

ihn nicht richtig angestöpselt – das Netzteil anzuschließen war ein bisschen frickelig –, deshalb hatte er sich während<br />

meiner Abwesenheit langsam entladen. Ich stöpselte ihn wieder ein und wartete ein, zwei Minuten, bevor<br />

ich ihn wieder einzuschalten versuchte. In der Zwischenzeit zog ich mich aus, warf meine Klamotten in den Müll<br />

– die wollte ich nämlich nie wieder sehen – und zog saubere Boxershorts und ein frisches T-Shirt an. Die frisch<br />

gewaschene Wäsche, direkt aus der Schublade, fühlte sich genauso vertraut und gemütlich an wie eine Umarmung<br />

von meinen Eltern.<br />

Ich schaltete den Laptop ein und stopfte ein paar Kissen hinter mir ans Kopfende des Betts. Dann lehnte ich mich<br />

zurück und legte mir den aufgeklappten Computer auf den Schoß. Er war immer noch am Hochfahren, und die<br />

Icons, die da so über das Display krochen, Mann, sah das gut aus. Er fuhr vollständig hoch und zeigte dann gleich<br />

neue Warnungen über niedrigen Akkustand. Ich prüfte das Stromkabel noch mal, rüttelte dran, und die Warnungen<br />

verschwanden. Die Netzbuchse gab echt bald den Geist auf.<br />

Cory Doctorow: Little Brother x

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