14.11.2012 Aufrufe

kapitel 1 - adamas.ai

kapitel 1 - adamas.ai

kapitel 1 - adamas.ai

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

Damit war es okay. Als die Spiele an diesem Abend zu Ende waren, nahmen wir alle in den Lagerunterkünften eine<br />

heiße Dusche. Darryl und ich stahlen Charles’ Klamotten und sein Handtuch. Wir knoteten alles zusammen und<br />

warfen die Bündel ins Pissoir. Eine Menge Jungs waren nur zu glücklich, uns beim Einweichen helfen zu dürfen<br />

– Charles war bei seinen Rempeleien ziemlich enthusiastisch gewesen.<br />

Ich wünschte, ich hätte ihn sehen können in dem Moment, als er aus der Dusche kam und seine Kleidung entdeckte.<br />

Muss eine schwierige Entscheidung sein: Rennst du nackt durchs Camp, oder dröselst du die fest verknoteten,<br />

zugepissten Klamotten auseinander und ziehst sie an?<br />

Er wählte Nacktheit. Ich hätte wahrscheinlich dasselbe gewählt. Wir stellten uns in einer langen Reihe zwischen<br />

den Duschen und den Baracken auf, wo das Gepäck lagerte, und applaudierten ihm. Ich stand am Anfang der<br />

Reihe und klatschte am lautesten.<br />

x<br />

Diese Wochenendlager gab es nur drei oder vier Mal im Jahr, was bei Darryl und mir – und vielen anderen LARPern<br />

– zu ernsthaften Entzugserscheinungen führte. Zum Glück gab es noch die Wretched-Daylight-Spiele in den Hotels<br />

der Stadt. Wretched Daylight ist ein anderes LARP mit rivalisierenden Vampir-Clans und Vampirjägern, und es hat<br />

seine eigenen raffinierten Regeln. Man bekommt Spielkarten zur Bewältigung der Kämpfe, so dass jedes Geplänkel<br />

eine kleine Runde eines Strategie-Kartenspiels umfasst. Vampire können unsichtbar werden, indem sie sich ihren<br />

Mantel über den Kopf ziehen und die Arme vor der Brust verschränken; dann müssen alle anderen Mitspieler so<br />

tun, als ob sie diesen Vampir nicht sehen, und ihre Unterhaltung über ihre Pläne und so weiter fortsetzen. Einen<br />

wirklich guten Spieler erkennt man daran, dass er ehrlich genug ist, seine Geheimnisse vor einem „unsichtbaren“<br />

Rivalen auszuplaudern und dabei so zu tun, als sei dieser gar nicht im Raum.<br />

Jeden Monat fand eine Handvoll großer Wretched-Daylight-Spiele statt. Die Organisatoren der Spiele hatten einen<br />

guten Draht zu den Hotels der Stadt und ließen sie jeweils wissen, dass sie freitagnachts zehn bis dahin unbelegte<br />

Zimmer buchen und mit Spielern füllen würden. Die Spieler würden dann im Hotel herumstreifen und in den Korridoren,<br />

am Pool und so halbwegs unauffällig Wretched Daylight spielen, sie würden im Hotelrestaurant essen und<br />

für die Nutzung des Hotel-WLANs bezahlen. Freitagnachmittags war Meldeschluss; dann m<strong>ai</strong>lten die Organisatoren<br />

uns an, und wir gingen nach der Schule direkt zu dem jeweiligen Hotel, brachten unsere Schlafsäcke mit, schliefen<br />

übers Wochenende jeweils zu sechst oder acht in einem Zimmer, ernährten uns von Junk-Food und spielten bis<br />

drei Uhr früh. Es war ein nettes, sauberes Vergnügen, gegen das unsere Eltern nichts einzuwenden hatten.<br />

Organisator war ein bekannter Bildungs-Förderverein, der Schreib-Workshops, Theaterkurse und dergleichen mehr<br />

für Jugendliche anbot. Er veranstaltete die Spiele schon seit zehn Jahren, ohne dass es je einen Zwischenfall gegeben<br />

hätte. Alles war streng alkohol- und drogenfrei, um die Organisatoren nicht irgendwelchen Vorwürfen der<br />

Verführung Minderjähriger auszusetzen. Je nach Wochenende kamen zwischen zehn und hundert Spieler zusammen,<br />

und für den Preis weniger Kinokarten hatten wir zweieinhalb Tage lang mächtig Spaß.<br />

Doch eines Tages gelang es ihnen, einen Block von Zimmern im Monaco zu buchen, einem Hotel im Tenderloin,<br />

das sich an kunstbeflissene ältere Touristen richtete – einem dieser Orte, an denen in jedem Zimmer ein Goldfischglas<br />

stand und die Empfangshalle voll war mit wundervollen alten Menschen in feiner Kleidung, die ihre Ergebnisse<br />

plastischer Chirurgie zur Schau stellten.<br />

Normalerweise pflegten uns die Irdischen – unser Wort für Nicht-Spieler – einfach zu ignorieren, sie hielten uns<br />

wohl für junge Hallodris. Aber an jenem Wochenende war zufällig der Herausgeber eines italienischen Reisemagazins<br />

im Hotel, und der entwickelte Interesse an der Sache. Er trieb mich in die Enge, als ich in der Halle<br />

herumlungerte in der Hoffnung, den Clan-Führer meiner Rivalen zu sehen, um mich auf ihn zu stürzen und sein<br />

Blut zu schlürfen. Ich stand mit über der Brust verschränkten Armen, also unsichtbar, an die Wand gelehnt herum,<br />

als er sich näherte und mich in holprigem Englisch fragte, was meine Freunde und ich denn an diesem Wochenende<br />

hier so trieben.<br />

Ich versuchte ihn loszuwerden, aber er ließ nicht locker. Also dachte ich, ich könne mir ja einfach was ausdenken,<br />

damit er endlich verschwände.<br />

Ich ahnte nicht, dass er meine Story drucken würde. Und ich ahnte noch viel weniger, dass es von der amerikanischen<br />

Journ<strong>ai</strong>lle aufgegriffen werden würde.<br />

„Wir sind hier, weil unser Prinz gestorben ist, deshalb mussten wir auf der Suche nach einem neuen Herrscher<br />

hierher kommen.“<br />

„Ein Prinz?“<br />

Cory Doctorow: Little Brother x

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!