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„Hast du ihnen neun Uhr gesagt?“<br />
„Jo“, sagte er.<br />
„Ich auch.“<br />
Wir tranken schweigend. Das Bud Lite war das am wenigsten alkoholische Getränk im Kühler. Ich würde später<br />
einen klaren Kopf brauchen.<br />
„Kriegst du manchmal Angst?“, fragte ich schließlich.<br />
Er drehte sich zu mir um. „Ne, Mann, ich krieg keine Angst. Ich hab immer Angst. Seit den Explosionen hab ich<br />
jede Minute Angst gehabt. Manchmal hab ich so viel Schiss, dass ich gar nicht aus dem Bett kriechen will.“<br />
„Warum machst dus trotzdem?“<br />
Er lächelte. „Was das angeht“, sagte er, „vielleicht mach ich es gar nicht mehr lange. Ich mein, es war toll, dir zu<br />
helfen. Toll. Wirklich klasse. Wüsste nicht, wann ich schon mal so was Wichtiges gemacht habe, Aber Marcus,<br />
Alter, ich muss sagen …“ Er verstummte.<br />
„Was?“, fragte ich, obgleich ich wusste, was nun kommen würde.<br />
„Ich kann das nicht mehr ewig weitermachen“, sagte er endlich. „Vielleicht nicht mal mehr einen Monat. Ich<br />
glaube, das wars für mich. Ist einfach zu riskant. Du kannst einfach nicht gegen das DHS in den Krieg ziehen. Das<br />
ist bescheuert. Wirklich totaler Wahnsinn.“<br />
„Du hörst dich an wie Van“, sagte ich. Meine Stimme klang viel bitterer, als ich es wollte.<br />
„Ich kritisier dich nicht, Mann. Ich finds klasse, dass du den Mut hast, die Sache die ganze Zeit durchzuziehen. Ich<br />
hab ihn nicht. Ich kann mein Leben nicht in permanenter Angst leben.“<br />
„Was meinst du damit?“<br />
„Ich meine, ich bin raus. Ich werde einer dieser Typen, die so tun, als ob alles in Ordnung ist und als ob bald alles<br />
wieder normal wird. Ich werde im Internet surfen wie immer und das Xnet nur noch zum Spielen benutzen. Ich<br />
zieh mich raus, das mein ich. Ich werde kein Teil deiner Pläne mehr sein.“<br />
Ich sagte kein Wort.<br />
„Ich weiß, das bedeutet, dich im Stich zu lassen. Ich will das nicht, glaub mir. Ich will viel lieber, dass du mit mir<br />
zusammen aufgibst. Du kannst keinen Krieg gegen die Regierung der USA erklären. Das ist ein Kampf, den du<br />
nicht gewinnen kannst. Und dir dabei zugucken, wie dus versuchst, ist wie zugucken, wie ein Vogel immer noch<br />
mal gegen die Scheibe fliegt.“<br />
Er erwartete, dass ich was sagte. Was ich sagen wollte, war Oh Gott, Jolu, herzlichen Dank dafür, dass du<br />
mich im Stich lässt! Hast du schon vergessen, wies war, als sie uns abgeholt haben? Hast du vergessen,<br />
wie es in diesem Land aussah, bevor sie es übernommen haben? Aber das war es nicht, was er von mir<br />
hören wollte. Was er hören wollte, war:<br />
„Ich verstehe, Jolu. Und ich respektiere deine Entscheidung.“<br />
Er trank den Rest aus seiner Flasche, zog sich eine neue raus und öffnete sie.<br />
„Da ist noch was“, sagte er.<br />
„Was?“<br />
„Ich wollts nicht erwähnen, aber ich will, dass du wirklich kapierst, warum ich das tun muss.“<br />
„Oh Gott, Jolu, was denn?“<br />
„Ich hasse es, das zu sagen, aber du bist weiß. Ich nicht. Weiße werden mit Kok<strong>ai</strong>n geschnappt und gehen dann<br />
ein bisschen auf Entzug. Farbige werden mit Crack erwischt und wandern für zwanzig Jahre in den Knast. Weiße<br />
sehen Bullen auf der Straße und fühlen sich sicherer. Farbige sehen Bullen auf der Straße und fragen sich, ob sie<br />
wohl gleich gefilzt werden. So, wie das DHS dich behandelt, so war das Gesetz in diesem Land für uns schon<br />
immer.“<br />
Es war so unf<strong>ai</strong>r. Ich hatte es mir nicht ausgesucht, weiß zu sein. Ich glaubte auch nicht, mutiger zu sein, nur weil<br />
ich weiß bin. Aber ich wusste, was Jolu meinte. Wenn die Bullen in der Mission jemanden anhielten und nach den<br />
Papieren fragten, dann war dieser Jemand typischerweise kein Weißer. Welches Risiko ich auch einging – Jolu<br />
ging das höhere ein. Welche Strafe ich zu zahlen hätte, Jolu würde mehr zu zahlen haben.<br />
Cory Doctorow: Little Brother x