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kapitel 1 - adamas.ai

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„Wahrscheinlich sind sie von all den Kameras und dem Überwachungszeug abgeschreckt worden“, sagte Jolu.<br />

„Die Nationalgarde checkt Autos auf beiden Seiten, und dann noch die Selbstmörderzäune und dieser Kram.“ Seit<br />

Golden Gate 1937 freigegeben worden war, sprangen die Leute da runter – nach dem tausendsten Selbstmord<br />

anno 1995 haben sie aufgehört mitzuzählen.<br />

„Ja“, sagte Vanessa. „Und außerdem führt die Bay Bridge wirklich irgendwo hin.“ Die Bay Bridge verbindet Downtown<br />

San Francisco mit Oakland und Berkeley, Wohnsiedlungen an der East Bay für viele der Menschen, die in der<br />

Stadt arbeiten. Die Gegend ist eine der wenigen in der Bay Area, in der ein Normalsterblicher sich ein Haus leisten<br />

kann, in dem er die Beine ausstrecken kann, außerdem gibts dort eine Universität und ein bisschen Industrie. Die<br />

BART führt zwar auch unter der Bay durch und verbindet die beiden Städte, aber der meiste Verkehr findet auf der<br />

Bay Bridge statt. Golden Gate war ne hübsche Brücke für Touristen und reiche Pensionäre drüben im Weinland,<br />

aber hauptsächlich war sie zu Dekozwecken da. Die Bay Bridge ist – war – das Arbeitstier der Stadt.<br />

Ich dachte einen Moment drüber nach. „Ihr habt Recht“, sagte ich. „Aber ich glaube, das ist noch nicht alles. Wir<br />

gehen immer davon aus, dass Terroristen Sehenswürdigkeiten angreifen, weil sie sie hassen. Aber Terroristen hassen<br />

keine Sehenswürdigkeiten oder Brücken oder Flugzeuge. Die wollen bloß Chaos verbreiten und Leuten Angst<br />

machen. Terror erzeugen eben. Also haben sie sich natürlich die Bay Bridge ausgesucht, weil auf der Golden Gate<br />

die ganzen Kameras installiert sind und weil sie beim Fliegen die ganzen Metalldetektoren und Röntgengeräte eingeführt<br />

haben und so.“<br />

Ich dachte noch eine Weile drüber nach und schaute dabei den Autos auf der Straße zu, den Leuten auf den Bürgersteigen,<br />

der ganzen Stadt um mich rum. „Terroristen hassen weder Flugzeuge noch Brücken. Sie lieben Terror.“<br />

Das war jetzt so offensichtlich, dass ich nicht verstand, wieso ich da nicht schon früher drauf gekommen war.<br />

Schätze mal, ein paar Tage lang wie ein Terrorist behandelt zu werden hatte mein Denken entrümpelt.<br />

Die anderen beiden starrten mich an. „Hab ich Recht oder nicht? Der ganze Dreck, dieses Röntgen und die Identitätsprüfungen,<br />

das ist alles komplett sinnlos, oder?“<br />

Sie nickten zaghaft.<br />

„Schlimmer als sinnlos“, fuhr ich mit überschlagender Stimme fort. „Weil es uns in den Knast gebracht hat und<br />

Darryl …“ Ich hatte nicht mehr an Darryl gedacht, seit wir hier saßen, und jetzt kams alles zu mir zurück: Mein<br />

Freund war fort, verschwunden. Ich brach ab und presste die Kiefer aufeinander.<br />

„Wir müssen es unseren Eltern erzählen“, sagte Jolu.<br />

„Wir brauchen einen Anwalt“, sagte Vanessa.<br />

Ich dachte daran, wie ich meine Geschichte erzählen würde. Daran, der Welt zu erzählen, was aus mir geworden<br />

war. An die Videos, die zweifellos auftauchen würden, auf denen ich weinte, nicht mehr war als ein kriechendes<br />

Tier.<br />

„Wir können ihnen gar nichts erzählen“, sagte ich ohne nachzudenken.<br />

„Wie bitte?“, entgegnete Van.<br />

„Wir können ihnen gar nichts erzählen“, wiederholte ich. „Ihr habt sie gehört. Wenn wir reden, kommen sie und<br />

holen uns wieder. Dann machen sie mit uns, was sie mit Darryl gemacht haben.“<br />

„Mach keine Witze“, sagte Jolu. „Du erwartest ernsthaft, dass wir …“<br />

„Dass wir zurückschlagen“, ergänzte ich. „Ich will frei bleiben, damit ich genau das tun kann. Wenn wir jetzt losgehen<br />

und alles erzählen, dann sagen sie, das sind bloß Kinder, die haben sich das ausgedacht. Mann, wir wissen<br />

ja noch nicht mal, wo sie uns hingebracht haben. Kein Mensch wird uns glauben. Und irgendwann kommen sie<br />

dann und holen uns.<br />

Ich werde meinen Eltern erzählen, dass ich in einem dieser Notlager auf der anderen Seite der Bay war. Dass ich da<br />

drüben war, um euch zu treffen, und dass wir dann festsaßen. In der Zeitung steht, es gibt immer noch Leute, die<br />

jetzt erst von da zurückkommen.“<br />

„Das kann ich nicht machen“, sagte Vanessa. „Und wie kannst du nur daran denken nach all dem, was sie mit dir<br />

gemacht haben?“<br />

„Weil es mir passiert ist, eben drum. Das ist jetzt ne Sache zwischen denen und mir. Ich erwisch die, und ich hol<br />

Darryl raus. Ich denk nicht dran, das einfach so hinzunehmen. Aber sobald unsere Eltern was wissen, wars das für<br />

uns. Niemand wird uns glauben, und niemanden interessierts. Wenn wirs so machen, wie ich es mir denke, wird<br />

es die Leute interessieren.“<br />

x Cory Doctorow: Little Brother

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