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Jolu klopfte mir auf den Rücken und bestellte dann einen neuen Latte für mich. „Wird schon wieder“, sagte er.<br />
„Ich hätte gedacht, dass Van es versteht; gerade sie.“ Die Hälfte von Vans Familie lebte in Nordkorea. Ihre Eltern<br />
hatten nie vergessen, dass all diese Verwandten unter der Herrschaft eines wahnsinnigen Diktators lebten und<br />
keine Chance hatten, nach Amerika zu entkommen, wie es ihnen selbst, Vans Eltern, gelungen war.<br />
Jolu zuckte die Achseln. „Vielleicht ist sie ja deshalb so ausgerastet. Weil sie genau weiß, wie gefährlich das werden<br />
kann.“<br />
Ich wusste, was er meinte. Zwei von Vans Onkeln waren ins Gefängnis gebracht worden und nie wieder<br />
aufgetaucht.<br />
„Ja“, sagte ich.<br />
„Und wieso warst du letzte Nacht nicht im Xnet?“ Ich war dankbar für die Ablenkung. So erklärte ich ihm alles,<br />
das Bayes-Zeug und meine Angst, wir könnten das Xnet nicht mehr weiter nutzen wie bisher, ohne erwischt zu<br />
werden. Er hörte aufmerksam zu.<br />
„Ich versteh, was du meinst. Das Problem ist, dass jemand, der zu viel Krypto in seinen Internet-Verbindungen<br />
hat, als ungewöhnlich auffällt. Aber wenn du nicht verschlüsselst, dann machst dus den bösen Jungs leichter, dich<br />
abzuhören.“<br />
„Genau“, sagte ich. „Ich versuch schon den ganzen Tag, mir da was auszudenken. Vielleicht könnten wir die Verbindungen<br />
abbremsen, über mehr Benutzerkonten verteilen …“<br />
„Klappt nicht“, sagte er. „Um sie langsam genug zu machen, dass sie im Hintergrundrauschen verschwinden, müsstest<br />
du das Netzwerk de facto dicht machen, und das wollen wir ja nicht.“<br />
„Du hast Recht“, sagte ich. „Aber was können wir sonst machen?“<br />
„Wie wäre es, wenn wir die Definition von ‚normal‘ ändern?“<br />
Und genau deshalb war Jolu schon mit zwölf bei Pigspleen angestellt worden. Gib ihm ein Problem mit zwei<br />
schlechten Lösungen, und er denkt sich eine komplett neue dritte Lösung aus, die damit anfängt, dass er alle<br />
Grundannahmen übern Haufen wirft.<br />
Ich nickte begeistert. „Na los, sag schon.“<br />
„Wenn jetzt der durchschnittliche Internetnutzer in San Francisco an einem durchschnittlichen Tag im Internet<br />
eine Menge mehr Krypto anhäuft? Wenn wir die Verteilung so hinbiegen können, dass Klartext und Chiffretext<br />
bei etwa fifty-fifty liegen, dann sehen die Leute, die das Xnet versorgen, plötzlich wieder normal aus.“<br />
„Aber wie kriegen wir das hin? Den Leuten ist ihre Privatsphäre doch viel zu egal, als dass sie plötzlich mit verschlüsselten<br />
Links surfen. Die begreifen doch nicht, warum es nicht egal ist, wenn jemand mitlesen kann, was sie<br />
so alles googeln.“<br />
„Schon, aber Webseiten sind nur kleine Datenpakete. Wenn wir die Leute jetzt dazu bringen, jeden Tag routinemäßig<br />
ein paar riesige verschlüsselte Files runterzuladen, dann würde das genauso viel Chiffretext erzeugen wie<br />
Tausende von Webseiten.“<br />
„Du redest übers indienet“, sagte ich.<br />
„Volltreffer“, sagte er.<br />
Das indienet – komplett kleingeschrieben – war es, was Pigspleen Net zu einem der erfolgreichsten unabhängigen<br />
Provider der Welt gemacht hatte. Damals, als die großen Label angefangen hatten, ihre Fans fürs Herunterladen<br />
ihrer Musik zu verklagen, waren etliche der unabhängigen Label und ihre Künstler entgeistert. Wie kann man denn<br />
bitte Geld verdienen, indem man seine Kunden verklagt?<br />
Pigspleens Gründerin hatte die Antwort. Sie machte Verträge mit allen Acts, die mit ihren Fans arbeiten wollten,<br />
statt sie zu bekämpfen. Du gibst Pigspleen eine Lizenz, deine Musik unter deren Kunden zu verbreiten, und<br />
bekommst dafür einen Anteil an den Abogebühren, der sich danach richtet, wie populär deine Musik ist. Für einen<br />
Indie-Künstler ist nicht Raubkopieren das Problem, sondern Unbekanntheit: Niemand interessiert sich auch nur<br />
genug für deine Musik, um sie zu klauen.<br />
Es funktionierte. Hunderte unabhängiger Künstler und Plattenfirmen unterzeichneten bei Pigspleen, und je mehr<br />
Musik es gab, desto mehr Fans wechselten zu Pigspleen als Internet-Anbieter und desto mehr Geld gab es für die<br />
Künstler. Binnen eines Jahres hatte der Provider hunderttausend neue Kunden, und inzwischen hatte er eine Million<br />
– mehr als die Hälfte aller Breitband-Anschlüsse in der Stadt.<br />
x Cory Doctorow: Little Brother