14.11.2012 Aufrufe

kapitel 1 - adamas.ai

kapitel 1 - adamas.ai

kapitel 1 - adamas.ai

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

Ich versuchte zu weinen, aber meine Augen fühlten sich trocken an, keine Tränen mehr da.<br />

Sie holten mich wieder. Ein Wärter kam mit einer Kapuze zu mir, so einer wie der, die ich aufbekommen hatte, als<br />

sie uns aufgriffen; wann auch immer das war – vor Tagen, vor Wochen.<br />

Man stülpte die Kapuze über meinen Kopf und zog sie im Nacken eng an. Völlige Dunkelheit umgab mich, und die<br />

Luft war stickig und schal. Ich wurde auf meine Füße gestellt und Korridore entlang geführt, Treppen hoch, auf<br />

Schotter. Eine Gangway hoch. Aufs Stahldeck eines Schiffs. Meine Hände wurden hinter meinem Rücken an ein<br />

Geländer gekettet. Ich kniete mich aufs Deck und horchte auf das Dröhnen der Diesel-Maschinen.<br />

Das Schiff setzte sich in Fahrt. Ein Hauch von Salzluft fand seinen Weg unter der Kapuze hindurch. Es regnete, und<br />

meine Klamotten wurden schwer vom Wasser. Ich war draußen, auch wenn mein Kopf noch unter einer Kappe<br />

steckte. Ich war draußen, in der Welt, Momente entfernt von meiner Freiheit.<br />

Sie kamen, mich zu holen, führten mich vom Boot runter und über unebenen Grund. Drei Metallstufen hoch.<br />

Meine Handfesseln wurden gelöst und die Kapuze entfernt.<br />

Ich war wieder im Truck. Frau Strenger Haarschnitt war auch wieder hier, am selben kleinen Schreibtisch wie<br />

zuvor. Sie hatte einen Reißverschlussbeutel bei sich, und darin waren mein Handy und die anderen kleinen Werkzeuge,<br />

meine Brieftasche und das Kleingeld aus meinen Taschen. Wortlos reichte sie mir alles.<br />

Ich füllte meine Taschen. Es fühlte sich komisch an, alles wieder am vertrauten Ort zu haben, wieder in meinen<br />

vertrauten Klamotten zu stecken. Hinter der Hecktür des Trucks konnte ich die vertrauten Geräusche meiner vertrauten<br />

Stadt vernehmen.<br />

Eine Wache reichte mir meinen Rucksack. Die Frau streckte mir ihre Hand entgegen. Ich schaute sie nur an. Sie<br />

nahm die Hand wieder runter und lächelte ein schiefes Lächeln. Dann machte sie eine Geste wie das Verschließen<br />

ihrer Lippen, zeigte auf mich – und öffnete die Tür.<br />

Draußen wars heller Tag, aber grau und regnerisch. Ich blickte eine Gasse runter auf Autos, LKWs und Räder,<br />

die die Straße entlangsausten. Wie angenagelt stand ich auf der obersten Stufe des Trucks und starrte der Freiheit<br />

entgegen.<br />

Meine Knie zitterten. Ich wusste jetzt, dass sie wieder mit mir spielten. Im nächsten Moment würden die Wachen<br />

mich wieder schnappen und nach drinnen zerren, die Kapuze würde wieder über meinen Kopf gestülpt, und<br />

dann würde ich wieder auf dem Boot sein und ins Gefängnis zurückgeschickt werden, zu den endlosen, nicht zu<br />

beantwortenden Fragen. Kaum konnte ich mich beherrschen, meine Faust in den Mund zu stecken.<br />

Dann zwang ich mich, eine Stufe runterzusteigen. Noch eine. Die letzte. Meine Turnschuhe knirschten auf dem<br />

Zeug auf dem Fußboden, Glasscherben, einer Nadel, Kies. Ich ging einen Schritt. Noch einen. Ich erreichte den<br />

Anfang der Gasse und trat auf den Bürgersteig.<br />

Niemand schnappte mich.<br />

Ich war frei.<br />

Dann pressten sich kräftige Arme um mich. Fast begann ich zu weinen.<br />

Cory Doctorow: Little Brother x

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!