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kapitel 1 - adamas.ai

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und später auch Gruppen für Schwulenrechte wie die Pink Panthers, radikale Frauengruppen, sogar ‚lesbische<br />

Separatisten‘, die Männer komplett abschaffen wollten. Und die Yippies. Hat schon mal jemand von den Yippies<br />

gehört?“<br />

„Wollten die nicht das Pentagon zum Schweben bringen?“, fragte ich. Darüber hatte ich mal eine Doku gesehen.<br />

Sie lachte. „Das hatte ich vergessen, aber du hast Recht, das waren sie. Yippies waren so etwas wie sehr politische<br />

Hippies, aber sie waren nicht in dem Sinne ernsthaft, wie wir uns Politik heute vorstellen. Sie waren ziemlich verspielt,<br />

Faxenmacher. Sie haben Geld in die New Yorker Börse geworfen und das Pentagon mit Hunderten Leuten<br />

umringt, um es mit einem Zauberspruch zu levitieren. Sie haben eine fiktive Art von LSD erfunden, das man mit<br />

Wasserpistolen versprühen sollte, und dann haben sie sich gegenseitig bespritzt und so getan, als ob sie stoned<br />

seien. Sie waren lustig und ziemlich telegen – einer der Yippies, ein Clown namens Wavy Gravy, brachte in der<br />

Regel Hunderte von Demonstranten dazu, sich wie der Weihnachtsmann zu verkleiden, so dass man abends in den<br />

Fernsehnachrichten sehen konnte, wie Polizisten den Weihnachtsmann festnahmen –, und sie mobilisierten eine<br />

Menge Leute.<br />

Ihre große Stunde war die Democratic National Convention 1968, als sie zu Protesten gegen den Vietnamkrieg aufriefen.<br />

Tausende von Leuten kamen nach Chicago, schliefen in den Parks und demonstrierten jeden Tag. In diesem<br />

Jahr hatten sie eine Menge bizarrer Aktionen; zum Beispiel ließen sie ein Schwein namens Pigasus als Präsidentschaftskandidat<br />

antreten. Die Polizei und die Demonstranten kämpften in den Straßen – das hatten sie vorher auch<br />

schon oft getan, aber die Polizisten in Chicago waren nicht klug genug, die Presse in Ruhe zu lassen. Sie verprügelten<br />

die Reporter, und die rächten sich, indem sie endlich ausführlich berichteten, was bei diesen Demonstrationen<br />

wirklich passierte. Plötzlich sah das ganze Land, wie seine Kinder ziemlich brutal von Polizisten zusammengeschlagen<br />

wurden. Sie nannten es einen ‚Polizei-Aufstand‘.<br />

Die Yippies sagten immer: „Trau keinem über 30“. Damit meinten sie, dass Leute, die vor einem bestimmten Zeitpunkt<br />

geboren waren, als Amerika Feinde wie die Nazis bekämpfte, es nie begreifen würden, was es bedeutete,<br />

sein Land so sehr zu lieben, dass man es ablehnen musste, gegen die Vietnamesen zu kämpfen.Sie dachten, dass<br />

du, wenn du erst mal 30 warst, deine Einstellungen nicht mehr ändern würdest und niemals begreifen könntest,<br />

wieso die Kinder der damaligen Zeit auf die Straße gingen und Krawall machten.<br />

San Francisco war der Ausgangspunkt für all das. Hier wurden revolutionäre Armeen gegründet. Einige davon<br />

jagten im Dienst ihrer Sache Häuser in die Luft oder raubten Banken aus. Viele der Jugendlichen von damals wurden<br />

später mehr oder weniger normal, während andere im Gefängnis landeten. Einige von den Studienabbrechern<br />

erreichten Erstaunliches – Steve Jobs und Steve Wozniak zum Beispiel, die den PC erfunden haben.“<br />

Die Sache begann mich zu faszinieren. Ein bisschen was wusste ich schon davon, aber so wie heute hatte man mir<br />

die Geschichte noch nie erzählt. Auf einmal sahen die lahmen, betulichen, erwachsenen Straßenproteste gar nicht<br />

mehr so lahm aus. Vielleicht war diese Sorte Action auch in der Xnet-Bewegung möglich.<br />

Ich hob meine Hand. „Haben sie gewonnen? Haben die Yippies gewonnen?“<br />

Sie sah mich lange an, als ob sie darüber nachdenken musste. Niemand sagte ein Wort. Wir waren alle auf die Antwort<br />

gespannt.<br />

„Verloren haben sie nicht“, sagte sie schließlich. „Sie sind sozusagen implodiert. Einige von ihnen sind wegen<br />

Drogen oder anderer Vergehen ins Gefängnis gekommen. Einige haben ihr Fähnchen gedreht und sind Yuppies<br />

geworden, und dann sind sie auf Vortragsreisen gegangen und haben herumerzählt, wie dumm sie gewesen seien<br />

und dass Gier doch eine gute Sache sei.<br />

Aber sie haben die Welt verändert. Der Vietnamkrieg ging zu Ende, und die Art von Konformismus und vorbehaltlosem<br />

Gehorsam, die bis dahin als Patriotismus gegolten hatte, war jetzt völlig out. Die Rechte von Farbigen,<br />

Frauen und Schwulen wurden nachhaltig weiterentwickelt. Die Rechte von Chicanos oder von Behinderten,<br />

überhaupt unsere gesamte Tradition bürgerlicher Freiheiten, wurden von diesen Leuten überhaupt erst<br />

ins Leben gerufen oder gestärkt. Die heutige Protestbewegung ist ein unmittelbarer Abkömmling der damaligen<br />

Auseinandersetzungen.“<br />

„Ich fass es nicht, wie Sie über die Leute reden“, sagte Charles. Er lehnte halb stehend in seinem Stuhl, und sein<br />

mageres, kantiges Gesicht war rot angelaufen. Seine Augen waren groß und feucht und seine Lippen riesig, und<br />

wenn er sich aufregte, sah er immer ein bisschen wie ein Fisch aus.<br />

Ms. Galvez verspannte sich merklich, dann sagte sie, „Ja, bitte, Charles?“<br />

x Cory Doctorow: Little Brother

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