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kapitel 1 - adamas.ai

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In dieser Stunde ging es um Manifest Destiny, den Gedanken, dass Amerikaner dazu auserwählt seien, die ganze<br />

Welt zu erobern (zumindest klang es in ihrer Darstellung so), und sie schien mir zu versuchen, mich zu irgendwelchen<br />

Reaktionen zu provozieren, um mich wieder rauswerfen zu können.<br />

Ich spürte die Blicke der ganzen Klasse auf mir, und das erinnerte mich an M1k3y und die Leute, die zu ihm aufschauten.<br />

Ich hatte es satt, dass man zu mir aufschaute. Ich vermisste Ange.<br />

Ich brachte den Rest des Tages hinter mich, ohne mir irgendwelche K<strong>ai</strong>nszeichen einzuhandeln. Schätzungsweise<br />

sagte ich keine acht Worte.<br />

Endlich war es vorbei, und ich sauste zur Tür, zum Tor, raus zur blöden Mission und zu meinem dämlichen<br />

Zuhause.<br />

Ich war kaum zum Tor raus, als jemand in mich reinrannte. Es war ein junger Obdachloser, vielleicht mein Alter<br />

oder ein bisschen älter. Er trug einen langen, speckigen Mantel, Jeans wie Kartoffelsäcke und verwarzte Turnschuhe,<br />

die aussahen wie einmal durch den Häcksler gelaufen. Sein langes Haar hing ihm ins Gesicht, und ein Zottelbart<br />

hing ihm bis runter in den Kragen eines völlig verblichenen Strickpullis.<br />

Das alles realisierte ich, während wir nebeneinander auf dem Bürgersteig lagen und die Leute an uns vorbeihasteten<br />

und komisch guckten. Sah so aus, als sei er in mich reingerannt, während er Valencia runterhastete, vermutlich<br />

von der Last seines Rucksacks gebeugt, der neben ihm auf dem Gehsteig lag, eng bedeckt mit geometrischen<br />

Kritzeleien mit Filzstift.<br />

Er setzte sich auf die Knie und wippte vor und zurück, als ob er betrunken war oder seinen Kopf gestoßen hatte.<br />

„Sorry, Kumpel“, sagte er. „Hab dich nicht gesehen. Biste verletzt?“ Ich setzte mich ebenfalls auf. Nichts fühlte<br />

sich verletzt an.<br />

„Hm, nein, alles okay.“<br />

Er stand auf und lächelte. Seine Zähne waren erschreckend weiß und ebenmäßig, die hätten auch eine Anzeige<br />

für eine kieferorthopädische Klinik zieren können. Er streckte mir seine Hand entgegen, und sein Griff war kräftig<br />

und bestimmt.<br />

„Tut mir echt Leid.“ Auch seine Stimme war klar und aufgeweckt. Ich hätte erwartet, dass er klang wie einer dieser<br />

Besoffenen, die mit sich selbst sprachen, wenn sie nachts durch die Straßen der Mission wankten, aber er klang<br />

eher wie ein gut informierter Buchhändler.<br />

„Kein Problem“, sagte ich.<br />

Er streckte nochmals die Hand aus.<br />

„Zeb.“<br />

„Marcus.“<br />

„Ein Vergnügen, Marcus“, sagte er. „Hoffe, ich renne mal wieder in dich rein!“ Lachend schnappte er seinen Rucksack,<br />

machte auf dem Absatz kehrt und eilte davon.<br />

x<br />

Den Rest des Weges nach Hause lief ich wie benebelt vor mich hin. Mom saß am Küchentisch, und wir plauderten<br />

über dies und jenes, gerade so, wie wir es immer getan hatten, bevor sich alles änderte.<br />

Ich ging rauf in mein Zimmer und ließ mich in meinen Stuhl fallen. Ausnahmsweise hatte ich keine Lust, mich<br />

ins Xnet einzuloggen. Das hatte ich schon heute früh vor der Schule getan und dabei festgestellt, dass mein Blogeintrag<br />

eine gigantische Kontroverse ausgelöst hatte zwischen Leuten, die sich meiner Meinung anschlossen, und<br />

anderen, die ernsthaft angepisst waren davon, dass ich ihnen sagte, sie sollten ihren Lieblingssport aufgeben.<br />

Hier lagen noch dreitausend Projekte rum aus der Zeit, bevor das alles angefangen hatte. Ich war dabei, eine Lochkamera<br />

aus Legos zu bauen, und ich hatte ein bisschen mit Lenkdrachen-Luftbildfotografie rumgespielt, indem<br />

ich eine alte Digitalkamera mit einem Auslöser aus Hüpfknete getunt hatte, der sich beim Start des Drachens ausdehnte,<br />

langsam zu seiner alten Form zurückfand und dabei die Kamera in gleichmäßigen Abständen auslöste.<br />

Außerdem war da noch ein Vakuum-Röhrenverstärker, den ich in eine prähistorische, verrostete und verbeulte<br />

Olivenöl-Dose eingebaut hatte – sobald das erledigt war, wollte ich eine Docking-Station für mein Handy einbauen<br />

und das Ganze um ein Set von 5.1-Surround-Boxen aus Tunfischdosen erweitern.<br />

Ich schaute über meine Arbeitsplatte und griff mir schließlich die Lochkamera. Gewissenhaft Legos ineinanderzustecken<br />

war heute genau mein Tempo.<br />

Cory Doctorow: Little Brother x

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