Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
aber wahrscheinlich war sie jetzt schon halbwegs in L.A., mit kaputten Fingern und nicht in der Lage, irgendwas<br />
zu tippen. Ich kitzelte wieder ihr Telefon.<br />
Die Jungs überredeten mich, mich für einen Moment aufs Ohr zu legen, und einen kurzen, peinlichen Moment<br />
lang wurde ich völlig paranoid und dachte, was, wenn diese Jungs mich ausliefern wollten, während ich schliefe?<br />
Natürlich war das idiotisch – sie hätten mich genauso einfach verpfeifen können, während ich wach war.<br />
Ich konnte einfach nicht damit umgehen, dass sie so viel von mir hielten. Rein vom Kopf her hatte ich gewusst,<br />
dass es Leute gab, die bereit waren, M1k3y zu folgen. Ein paar von denen hatte ich heute früh getroffen, als sie<br />
– Beißen Beißen Beißen – übers Civic Center hergefallen waren. Aber diese beiden waren persönlicher. Sie waren<br />
einfach nur nette, bisschen trottelige Kerle, die damals in den Tagen vor dem Xnet durchaus meine Freunde hätten<br />
sein können, einfach zwei Kumpel, mit denen man Teenager-Abenteuer hätte bestehen können. Und sie hatten<br />
sich freiwillig zu einer Armee gemeldet, zu meiner Armee. Ich war ihnen gegenüber verantwortlich. Auf sich<br />
selbst gestellt, würden sie früher oder später geschnappt werden. Sie waren zu vertrauensselig.<br />
„Jungs, hört mir mal einen Moment zu. Ich muss mit euch über was Ernstes reden.“ Fast standen sie in Habacht-<br />
Stellung. Wäre es nicht so finster gewesen, hätte ichs komisch gefunden.<br />
„Okay, es geht um Folgendes. Jetzt, da ihr mir geholfen habt, ist es wirklich gefährlich. Wenn ihr geschnappt werdet,<br />
werde ich geschnappt. Sie werden alles aus euch rauskriegen, was ihr wisst …“ – ich hob die Hand, um ihre<br />
Proteste abzuwehren. „Nein, ehrlich. Ihr habt es noch nicht durchgemacht. Jeder redet. Jeder zerbricht. Wenn ihr<br />
also jemals geschnappt werdet, dann erzählt ihnen sofort alles, was ihr wisst, so schnell ihr könnt. Sie bekommen<br />
es irgendwann doch raus. So arbeiten die nun mal.<br />
Aber ihr werdet nicht geschnappt werden, und zwar deshalb: Ihr seid jetzt keine Jammer mehr. Ihr seid vom<br />
aktiven Dienst befreit. Ihr seid jetzt …“, ich fischte in meinem Gedächtnis nach Schlagworten aus Spionagethrillern,<br />
„ihr seid jetzt eine Schläferzelle. Zieht euch zurück, verhaltet euch wieder wie normale Kids. Irgendwie, ich<br />
weiß noch nicht, wie, werde ich diese Sache knacken, voll und ganz, ich werde sie zu einem Ende bringen. Oder<br />
sie knackt mich und erledigt mich endgültig. Wenn ihr nicht innerhalb von 72 Stunden von mir hört, dann geht<br />
davon aus, dass sie mich geschnappt haben. Dann könnt ihr tun, was immer ihr wollt. Aber die nächsten drei Tage<br />
– und für immer, wenn ich das erledige, was ich erledigen will – haltet euch bitte raus. Versprecht ihr mir das?“<br />
Sie versprachen es mit heiligem Ernst. Dann erlaubte ich ihnen, mich in einen Dämmerschlaf zu plappern, aber<br />
ließ sie schwören, mich einmal pro Stunde zu wecken, damit ich Mashas Handy kitzeln und nachschauen konnte,<br />
ob mir Zeb schon geantwortet hatte.<br />
x<br />
Der Treffpunkt war in einem BART-Waggon, was mich nervös machte. Die Dinger sind voll von Kameras. Aber<br />
Zeb wusste, was er tat. Er ließ mich in den letzten Waggon eines bestimmten Zuges einsteigen, der zu einer Uhrzeit<br />
von Powell Street Station abfuhr, zu der die Leute dicht an dicht standen. Er näherte sich mir in der Masse, und<br />
die guten Pendler von San Francisco machten ihm etwas Platz, die Sorte Freiraum, die man immer um Obdachlose<br />
herum beobachtet.<br />
„Schön, dich wieder zu sehen“, murmelte er, das Gesicht auf den Eingang gerichtet. Im dunklen Glas konnte ich<br />
erkennen, dass niemand dicht genug war, um uns belauschen zu können, zumindest nicht ohne ein Hochleistungs-<br />
Richtmikrofon; und wenn sie genug wussten, um mit so einem hier aufzukreuzen, dann waren wir sowieso schon<br />
tot.<br />
„Dich auch, Bruder“, antwortete ich. „Ich, es … es tut mir Leid, weißt du?“<br />
„Klappe. Muss dir nicht Leid tun. Du warst mutiger, als ich es bin. Bist du jetzt bereit, in den Untergrund zu gehen?<br />
Bereit zu verschwinden?“<br />
„Was das angeht …“<br />
„Ja?“<br />
„Das ist nicht der Plan.“<br />
„Oh“, sagte er.<br />
„Hör mal, okay? Ich habe … ich habe Bilder und Video. Sachen, die echt was beweisen.“ Ich griff in meine Tasche<br />
und befingerte mal wieder Mashas Handy. Ich hatte auf dem Weg hierher in Union Square ein Ladegerät gekauft<br />
und war in einem Café lange genug sitzen geblieben, bis die Batterieanzeige wieder bei vier von fünf Strichen war.<br />
Cory Doctorow: Little Brother x