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kapitel 1 - adamas.ai

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„Wie denkst dus dir denn?“, fragte Jolu. „Was ist dein Plan?“<br />

„Weiß ich noch nicht“, musste ich zugeben. „Lasst mir Zeit bis morgen früh, wenigstens bis dann.“ Ich wusste:<br />

Wenn sie einen Tag lang dicht halten würden, dann würden sie für immer dicht halten. Unsere Eltern wären ja nur<br />

noch skeptischer, wenn wir uns plötzlich dran „erinnerten“, in einem Geheimgefängnis festgehalten worden zu<br />

sein statt in einem Flüchtlingslager.<br />

Van und Jolu schauten einander an.<br />

„Ich will doch nur eine Chance“, sagte ich. „Wir machen die Geschichte unterwegs noch rund. Gebt mir bloß diesen<br />

einen Tag bitte.“<br />

Die anderen beiden nickten düster, und wir machten uns auf den Weg bergab, auf den Weg nach Hause. Ich lebte<br />

auf Potrero Hill, Vanessa in der nördlichen Mission, und Jolu lebte in Noe Valley – drei total unterschiedliche Viertel,<br />

nur ein paar Gehminuten voneinander entfernt.<br />

Wir bogen in die Market Street ein und blieben stehen wie angewurzelt. Die Straße war an allen Ecken verbarrikadiert,<br />

die Querstraßen auf eine Spur verengt, und über die gesamte Länge von Market Street parkten große,<br />

unscheinbare Neunachser wie der, mit dem sie uns, mit Kapuzen über den Augen, von den Schiffsdocks nach<br />

Chinatown transportiert hatten.<br />

Alle hatten sie hinten dreistufige Metallleitern befestigt, und es wimmelte nur so von Soldaten, Anzugträgern und<br />

Polizisten, die in die Trucks rein- und wieder rausgingen. Die Anzüge hatten kleine Etiketten an den Revers, die<br />

die Soldaten beim Rein- und Rauskommen scannten – drahtlose Zugangsberechtigungs-Buttons. Als wir an einem<br />

vorbeikamen, erhaschte ich einen näheren Blick und sah das vertraute Logo: Ministerium für Heimatschutz. Der<br />

Soldat sah, wie ich hinstarrte, und starrte mit wütendem Blick zurück.<br />

Ich verstand den Wink und ging weiter. Höhe Van Ness trennte ich mich von der Gang. Wir umarmten einander,<br />

weinten und versprachen, uns anzurufen.<br />

Für den Weg zurück nach Potrero Hill gibt es eine leichte und eine schwere Route; die zweite führt über einige<br />

der steilsten Hügel der Stadt, die Sorte, die man bei Autoverfolgungsjagden in Actionfilmen sieht, wo die Autos<br />

abheben, wenn sie über den höchsten Punkt rasen. Ich nehm immer die schwere Route nach Hause. Die führt<br />

durch herrschaftliche Straßen mit alten viktorianischen Häusern, die wegen ihrer fröhlichen, sorgfältigen Bemalung<br />

„lackierte Ladies“ genannt werden, und Vorgärten mit duftenden Blumen und hohen Gräsern. Von Hecken<br />

runter glotzen dich Hauskatzen an, und es gibt kaum Obdachlose dort.<br />

Es war so still auf diesen Straßen, dass ich bald wünschte, ich hätte diesmal die andere Route genommen, durch die<br />

Mission; die ist …, hm, lärmend ist wahrscheinlich das beste Wort dafür. Laut und pulsierend. Jede Menge krawallige<br />

Betrunkene, zornige Kokser und bewusstlose Junkies, dazu jede Menge Familien mit Kinderwagen, alte Damen,<br />

die auf Verandas schnatterten, tiefergelegte Kreuzer mit fettem Soundsystem, die mit wumm-wumm-wumm die<br />

Straßen entlangfuhren. Es gab hippes Jungvolk, zottelige Emo-Kunststudenten und sogar einige Old-School-Punkrocker,<br />

alte Säcke mit Bierbäuchen unter ihren Dead-Kennedys-T-Shirts. Dazu Drag Queens, auf Krawall gebürstete<br />

Gang-Kids, Graffitikünstler und verwirrte Neureiche, die versuchten, hier nicht ermordet zu werden, während ihre<br />

Grundstücksinvestitionen reiften.<br />

Ich ging Goat Hill rauf und kam an Goat Hill Pizza vorbei; das erinnerte mich an den Knast, aus dem ich kam, und<br />

ich musste mich auf die Bank vor dem Restaurant setzen, bis mein Zittern sich gelegt hatte. Dann bemerkte ich<br />

den Truck oben auf dem Hügel, einen unauffälligen Neunachser mit drei Metallstufen am hinteren Ende. Ich stand<br />

auf und setzte mich in Bewegung. Ich fühlte, wie die Augen mich aus allen Richtungen beobachteten.<br />

Den Rest des Weges hatte ichs eilig. Ich hatte keine Augen mehr für die lackierten Ladies, die Gärten oder die<br />

Hauskatzen. Ich blickte nur zu Boden.<br />

Beide Autos meiner Eltern standen in der Auffahrt, obwohl es noch mitten am Tag war. Ja logisch. Dad arbeitet in<br />

der East Bay, deshalb saß er daheim fest, solange sie an der Brücke arbeiteten. Mom – keine Ahnung, warum Mom<br />

daheim war.<br />

Sie waren wegen mir daheim.<br />

Noch bevor ich den Schlüssel fertig umgedreht hatte, wurde mir die Tür aus der Hand gerissen und weit aufgeschwungen.<br />

Da standen meine Eltern, grau und übernächtigt, und starrten mich aus großen Augen an. So standen<br />

wir für einen Moment, wie in einem Stillleben eingefroren, dann stürzten sie auf mich zu, zogen mich ins Haus<br />

und warfen mich beinahe dabei um. Sie redeten beide so laut und schnell durcheinander, dass ich bloß ein wortlos<br />

rauschendes Brabbeln hörte, und sie umarmten mich beide, und sie weinten, und ich weinte auch, und so standen<br />

Cory Doctorow: Little Brother x

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