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Zeb lächelte herablassend. „Freeganer dürfen nicht wählerisch sein“, sagte er.<br />
„Freeganer?“<br />
„Wie Veganer, aber wir essen nur Gratisspeisen.“<br />
„Gratisspeisen?“<br />
Er grinste wieder. „Du weißt schon – Gratisspeisen. Aus dem Gratisspeisenladen.“<br />
„Du hast das Zeug geklaut?“<br />
„Nein, Blödmann. Es ist aus dem anderen Laden. Aus dem kleinen hinter dem Laden. Dem aus blauem Stahl, mit<br />
dem merkwürdigen Geruch.“<br />
„Du hast das hier aus dem Müll?“<br />
Er warf seinen Kopf zurück und gickelte. „Na klar doch. Dein Gesicht müsstest du sehen. Alter, es ist okay. Es<br />
ist ja nicht so, dass das Zeug vergammelt wäre. Es war frisch – bloß eine versaute Bestellung. Die haben sie in<br />
der Schachtel weggeworfen. Nach Ladenschluss streuen sie Rattengift überall drüber, aber wenn du rechtzeitig<br />
kommst, bist du okay. Du solltest mal sehen, was Obst- und Gemüseläden so wegwerfen! Warte bis zum Frühstück.<br />
Ich mach dir einen Obstsalat, das glaubst du nicht. Sobald auch nur eine Erdbeere in der Kiste ein bisschen<br />
grün oder matschig wird, kommt alles weg …“<br />
Ich brachte ihn zum Schweigen. Die Pizza war okay. Es war ja nicht so, dass sie von dem kurzen Aufenthalt in der<br />
Mülle irgendwie infiziert worden wäre. Wenn daran etwas eklig war, dann der Umstand, dass sie von Domino’s<br />
kam – der grässlichsten Pizzakette der Stadt. Ich hatte ihr Essen noch nie sehr gemocht, und als ich erfahren hatte,<br />
dass sie eine Gruppe ultrabescheuerter Politiker finanzierten, die daran glaubten, dass globale Erwärmung und<br />
Evolution satanische Tricks waren, hatte ichs ganz aufgegeben.<br />
Das Gefühl von Ekel war dennoch nicht so leicht zu unterdrücken.<br />
Aber die Sache hatte noch einen ganz anderen Aspekt. Zeb hatte mir ein Geheimnis offenbart, etwas, worauf ich<br />
nicht vorbereitet gewesen war: Da draußen existierte eine ganze versteckte Welt, eine Art, irgendwie durchzukommen,<br />
ohne ein Teil des Systems zu werden.<br />
„Freeganer, ja?“<br />
„Jogurt brauchen wir auch“, sagte er und nickte nachdrücklich. „Für den Obstsalat. Den werfen sie am Tag nach<br />
dem Mindesthaltbarkeitsdatum gleich weg, aber der wird ja nicht um Mitternacht sofort grün. Hey, es ist Jogurt,<br />
ich mein, das ist doch sowieso schon vergammelte Milch.“<br />
Ich schluckte. Die Pizza schmeckte komisch. Rattengift. Abgelaufener Jogurt. Matschige Erdbeeren. Daran würde<br />
ich mich erst mal gewöhnen müssen.<br />
Ich biss noch mal ab. Wenn man sie für lau bekam, war Domino’s Pizza ein bisschen weniger scheußlich.<br />
Liams Schlafsack war warm und einladend nach diesem langen, emotional aufreibenden Tag. Van dürfte Barbara<br />
mittlerweile kontaktiert haben. Sie würde das Video und das Foto haben. Ich würde sie am nächsten Morgen anrufen<br />
und in Erfahrung bringen, was sie als nächste Aktion für angebracht hielt. Sobald sie veröffentlichte, würde ich<br />
noch mal reinkommen müssen, um die Geschichte zu untermauern.<br />
Darüber dachte ich nach, als ich meine Augen schloss; ich dachte daran, wie es wohl sein würde, mich selbst zu<br />
stellen, vor laufenden Kameras, die dem berüchtigten M1k3y in eines jener großen, säulengeschmückten Gebäude<br />
am Civic Center folgten.<br />
Der Lärm der über mir vorbeisausenden Autos verwandelte sich in ein Ozeanrauschen, als ich wegdämmerte. In<br />
der Nähe standen noch andere Zelte von Obdachlosen. Ein paar von ihnen hatte ich an diesem Nachmittag getroffen,<br />
bevor es dunkel wurde und wir uns alle zu unseren eigenen Zelten zurückzogen. Sie waren alle älter als ich<br />
und sahen grob und derb aus. Aber keiner von ihnen sah aus, als sei er verrückt oder gewalttätig. Nur eben wie<br />
Leute, die nicht viel Glück gehabt hatten oder schlechte Entscheidungen getroffen oder beides.<br />
Ich musste eingeschlafen sein, denn ich erinnere mich an nichts mehr bis zu dem Moment, an dem ein blendend<br />
helles Licht auf mein Gesicht fiel.<br />
„Das ist er“, sagte eine Stimme hinter dem Licht.<br />
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Cory Doctorow: Little Brother x