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kapitel 1 - adamas.ai

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Ein Hauch von Verstimmung erschien auf ihrem Gesicht und verschwand wieder. „Wie melodramatisch, Marcus.<br />

Niemand hat dich angegriffen. Die Regierung deines Landes hat dich in Gewahrsam genommen, während wir<br />

den schlimmsten Terroranschlag aufzuklären versuchen, der je auf unserem Staatsgebiet verübt wurde. Es liegt in<br />

deiner Macht, uns bei diesem Krieg gegen die Feinde unserer Nation zu unterstützen. Du willst die Bill of Rights<br />

erhalten? Dann hilf uns, böse Menschen daran zu hindern, deine Stadt in die Luft zu sprengen. So, und jetzt hast du<br />

genau dreißig Sekunden Zeit, dieses Telefon zu entsperren, bevor ich dich in deine Zelle zurückbringen lasse. Wir<br />

haben heute schließlich noch eine Menge andere Leute zu befragen.“<br />

Sie blickte auf ihre Uhr. Ich schüttelte meine Handgelenke, schüttelte die Ketten, die mich daran hinderten, herumzugreifen<br />

und das Handy zu entsperren. Ja, ich würde es tun. Sie hatte mir den Weg zurück in die Freiheit gezeigt<br />

– zurück zur Welt, zu meinen Eltern –, und ich hatte Hoffnung geschöpft. Nun hatte sie gedroht, mich fortzuschicken,<br />

ab von diesem Weg; meine Hoffnung war verflogen und alles, woran ich denken konnte, war, wieder<br />

auf diesen Weg zurückzugelangen.<br />

Also schüttelte ich meine Handgelenke, um an mein Handy zu gelangen und es für sie zu entsperren, und sie saß<br />

bloß da, schaute mich kalt an und guckte auf die Uhr.<br />

„Das Passwort“, sagte ich, als ich endlich begriff, was sie von mir wollte. Sie wollte, dass ich es laut sagte, hier,<br />

wo sie es aufzeichnen konnte, wo ihre Kumpels es hören konnten. Sie wollte nicht bloß, dass ich das Handy entsperrte.<br />

Sie erwartete von mir, dass ich mich ihr unterwerfe. Dass ich mich ihrer Verantwortung unterstellte. Dass<br />

ich alle Geheimnisse preisgab, meine gesamte Privatsphäre. „Das Passwort“, sagte ich noch mal, und dann nannte<br />

ich ihr das Passwort. Gott steh mir bei, ich hatte mich ihrem Willen unterworfen.<br />

Sie lächelte ein sprödes Lächeln – für diese Eiskönigin war das wohl schon wie ne Engtanzfete –, und die Wachen<br />

führten mich weg. Als die Tür zuging, sah ich noch, wie sie sich über mein Handy beugte und das Kennwort<br />

eingab.<br />

Ich wünschte, ich könnte behaupten, auf diese Möglichkeit gefasst gewesen zu sein und ihr ein Pseudo-Kennwort<br />

geliefert zu haben, mit dem sie eine völlig unverfängliche Partition meines Handys freigeschaltet hätte; aber so<br />

paranoid oder clever war ich damals längst nicht.<br />

An diesem Punkt könntet ihr euch fragen, was für finstere Geheimnisse ich wohl auf meinem Handy, auf den Speichersticks<br />

und in meinen E-M<strong>ai</strong>ls zu verbergen hatte – immerhin bin ich bloß ein Jugendlicher.<br />

Die Wahrheit lautet: Ich hatte alles zu verbergen und nichts zugleich. Handy und Speichersticks zusammen würden<br />

bloß einiges darüber verraten, mit wem ich befreundet war, was ich von diesen Freunden dachte und welche<br />

albernen Dinge wir erlebt hatten. Man konnte die Mitschnitte unserer elektronischen Diskussionen nachverfolgen<br />

und die elektronischen Ergebnisse, zu denen diese Diskussionen uns geführt hatten.<br />

Wisst ihr, ich lösch einfach nichts. Wozu auch? Speicherplatz ist billig, und man weiß nie, wann man auf die<br />

Sachen noch mal zurückkommen mag. Vor allem auf die dummen Sachen. Kennt ihr das Gefühl, wenn man in der<br />

U-Bahn sitzt und niemanden zum Quatschen hat, und plötzlich erinnert man sich an irgendeinen heftigen Streit, an<br />

irgendwas Fieses, was man mal gesagt hat? Und normalerweise ist das doch nie so übel, wie es einem in der Erinnerung<br />

vorkommt. Wenn man dann noch mal die alten Sachen durchgucken kann, hilft das zu merken, dass man<br />

doch nicht so ein mieser Typ ist, wie man dachte. Darryl und ich haben auf diese Weise so viele Streitereien hinter<br />

uns gebracht, dass ichs gar nicht mehr zählen kann.<br />

Und auch das triffts noch nicht. Ich weiß einfach: Mein Handy ist privat; meine Speichersticks sind privat. Und<br />

zwar dank Kryptografie – Texte unleserlich zerhacken. Hinter Krypto steckt solide Mathematik, und jeder hat<br />

Zugriff auf dieselbe Krypto, die auch Banken oder die Nationale Sicherheitsbehörde nutzen. Jeder nutzt ein<br />

und dieselbe Sorte Krypto: öffentlich, frei und von jedermann benutzbar. Deshalb kann man sicher sein, dass es<br />

funktioniert.<br />

Es hat echt was Befreiendes zu wissen, dass es eine Ecke in deinem Leben gibt, die deine ist, die sonst keiner sieht<br />

außer dir. Das ist so ähnlich wie nackt sein oder kacken. Jeder ist hin und wieder nackt, und jeder muss mal aufs<br />

Klo. Nichts daran ist beschämend, abseitig oder bizarr. Aber was wäre, wenn ich verfügen würde, dass ab sofort<br />

jeder, der mal eben ein paar Feststoffe entsorgen muss, dazu in ein Glashäuschen mitten auf dem Times Square<br />

gehen muss, und zwar splitterfasernackt?<br />

Selbst wenn an deinem Körper nichts verkehrt oder komisch ist – und wer von uns kann das schon behaupten?<br />

–, musst du schon ziemlich schräg drauf sein, um die Idee gut zu finden. Die meisten von uns würden schreiend<br />

weglaufen; wir würden anhalten, bis wir platzen.<br />

x Cory Doctorow: Little Brother

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