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kapitel 1 - adamas.ai

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Ich nahm meine Uhr ab, ebenso den klobigen silbernen Zwei-Finger-Ring, der einen Affen und einen Ninja in<br />

Zweikampfbereitschaft zeigte, und ließ beides in die kleine Kiste fallen, die ich für das ganze Zeug benutzte, das<br />

ich jeden Tag in die Taschen und um den Hals packe, bevor ich das Haus verlasse: Handy, Brieftasche, Schlüssel,<br />

WLAN-Finder, Kleingeld, Akkus, aufrollbare Kabel, … ich ließ alles ins Kistchen ploppen und merkte plötzlich,<br />

dass ich etwas in der Hand hielt, das ich nicht in meine Tasche gesteckt hatte.<br />

Es war ein Stück Papier, grau und weich wie Flanell, ausgefasert an den Kanten, wo es aus einem größeren Stück<br />

Papier herausgerissen worden war. Es war übersät mit der kleinsten, sorgfältigsten Handschrift, die ich je gesehen<br />

hatte. Ich faltete es auf und nahm es hoch. Das Geschriebene bedeckte beide Seiten, ohne Unterbrechung von der<br />

linken oberen Ecke bis zu einer kaum lesbaren Unterschrift rechts unten auf der anderen Seite.<br />

Die Unterschrift lautete einfach Zeb.<br />

Ich nahm den Zettel und begann zu lesen.<br />

Lieber Marcus<br />

Du kennst mich nicht, aber ich kenne dich. Die letzten drei Monate, seit die Bay Bridge hochgejagt wurde,<br />

wurde ich auf Treasure Island gefangen gehalten. Ich war an dem Tag im Hof, an dem du mit dem asiatischen<br />

Mädchen sprachst und in die Mangel genommen wurdest. Du warst mutig. Respekt.<br />

Ich hatte am folgenden Tag einen Blinddarmdurchbruch und kam in die Krankenstation. Im nächsten<br />

Bett lag ein Typ namens Darryl. Wir waren beide eine ganze Weile in Rekonvaleszenz, und als wir<br />

irgendwann wieder gesund waren, wäre es allzu lästig geworden, uns laufen zu lassen.<br />

Also entschieden sie, dass wir wirklich schuldig sein müssten. Sie befragten uns jeden Tag. Du kennst ihre<br />

Befragungen, das weiß ich. Stell dir dasselbe monatelang vor. Darryl und ich waren irgendwann Zellengenossen.<br />

Wir wussten, dass sie uns verwanzt hatten, also redeten wir nur über belangloses Zeug. Aber<br />

nachts auf unseren Pritschen haben wir uns leise Nachrichten mit Morse-Code zugeklopft (ich wusste es<br />

immer, dass meine Amateurfunkerei irgendwann mal zu etwas gut ist).<br />

Zuerst waren ihre Fragen an uns derselbe Dreck wie immer – wer war es, wie haben sie es getan. Aber<br />

ein bisschen später haben sie dann angefangen, uns über das Xnet zu befragen. Natürlich hatten wir<br />

davon noch nie was gehört. Aber das hielt sie nicht vom Fragen ab.<br />

Darryl erzählte mir, dass sie ihm RFID-Kloner, Xboxen und alles mögliche Technikzeug brachten und<br />

von ihm verlangten, dass er ihnen erzählte, wer das benutzte und wo sie lernen würden, das Zeug zu<br />

tunen. Darryl hat mir von euren Spielen erzählt und davon, was ihr dabei alles gelernt habt.<br />

Insbesondere hat das DHS uns über unsere Freunde ausgefragt. Wen kannten wir? Wie waren sie so?<br />

Hatten sie politische Ansichten? Hatten sie Ärger in der Schule oder mit dem Gesetz?<br />

Wir nennen den Knast Gitmo-an-der-Bay. Ich bin jetzt seit einer Woche draußen, und ich glaube nicht,<br />

dass hier irgendjemand eine Ahnung hat, dass ihre Söhne und Töchter mitten in der Bay gefangen gehalten<br />

werden. Nachts konnten wir sogar die Leute auf dem Festland lachen und feiern hören.<br />

Letzte Woche bin ich rausgekommen. Ich erzähl dir nicht, wie, falls das hier in die falschen Hände gerät.<br />

Mögen andere meiner Route folgen.<br />

Darryl hat mir erzählt, wie ich dich finde, und ich musste ihm versprechen, dir alles zu berichten, was<br />

ich weiß. Jetzt, da ich das getan habe, bin ich nix wie weg hier. Ich werde einen Weg finden, dieses Land<br />

zu verlassen. Scheiß auf Amerika.<br />

Bleib stark. Die haben Angst vor dir. Tritt sie von mir. Lass dich nicht erwischen.<br />

Zeb<br />

Als ich mit der Nachricht fertig war, hatte ich Tränen in den Augen. Irgendwo auf meinem Schreibtisch hatte ich<br />

ein Einwegfeuerzeug, das ich manchmal benutzte, um die Isolierung von Kabeln abzuschmelzen, und ich kramte<br />

es hervor und hielt es an den Zettel. Ich wusste, ich schuldete es Zeb, ihn zu zerstören, um sicherzugehen, dass<br />

niemand sonst ihn jemals finden würde, um sie nicht auf seine Spur zu führen, wohin immer er jetzt ging.<br />

Ich hielt die Flamme und den Zettel, aber ich brachte es nicht über mich.<br />

Darryl.<br />

Über all dem Zeugs mit dem Xnet und Ange und dem DHS hatte ich fast vergessen, dass es ihn gab. Er war zu<br />

einem Geist geworden, wie ein Jugendfreund, der jetzt weggezogen oder auf einem Austauschprogramm war. Und<br />

x Cory Doctorow: Little Brother

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