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Sie hatten mich aus der Zelle geholt und meine Handgelenke und Knöchel zusammengekettet. Während wir gingen,<br />
achtete ich auf meine Umgebung. Ich hörte Wasser draußen und dachte, dass wir vielleicht auf Alcatraz waren<br />
– immerhin war das ein Gefängnis, wenn es auch schon seit Jahrzehnten als Touristenmagnet diente: Hierher kam<br />
man, um zu sehen, wo Al Capone und seine Gangster-Zeitgenossen ihre Zeit abgesessen hatten. Aber nach Alcatraz<br />
war ich mal auf einem Schulausflug gekommen. Das war alt und rostig, irgendwie mittelalterlich. Dies hier fühlte<br />
sich mehr nach Zweitem Weltkrieg an, nicht nach der Kolonialzeit.<br />
An den Zellentüren gabs Aufkleber mit aufgedruckten Barcodes, auch Nummern, aber sonst keinen Hinweis darauf,<br />
wer oder was sich jeweils hinter der Tür befinden mochte.<br />
Der Befragungsraum war modern, mit Neonröhren, ergonomischen Stühlen (aber nicht für mich, ich kriegte einen<br />
Garten-Faltstuhl aus Plastik) und einem großen Konferenztisch aus Holz. Ein Spiegel bedeckte eine Wand, wie in<br />
den Polizei-Sendungen, und ich schätzte, der eine oder andere würde wohl von der anderen Seite zuschauen. Frau<br />
Strenger Haarschnitt und ihre Freunde versorgten sich mit Kaffee aus einer Kanne auf nem Beistelltisch (in dem<br />
Moment hätte ich ihr die Kehle mit den Zähnen aufschlitzen können, nur um an ihren Kaffee zu kommen), und<br />
dann stellte sie eine Plastiktasse mit Wasser vor mich – ohne meine Hände hinterm Rücken loszubinden, so dass<br />
ich nicht drankam. Sehr komisch.<br />
„Hallo, Marcus“, sagte Frau Strenger Haarschnitt. „Wie stehts heute um deine Einstellung?“ Ich sagte kein Wort.<br />
„Weißt du, das hier ist nicht das Schlimmste“, fuhr sie fort. „Besser wirds ab jetzt nie mehr für dich. Selbst wenn<br />
du uns jetzt noch sagen solltest, was wir wissen wollen, und selbst wenn uns das davon überzeugt, dass du bloß<br />
zur falschen Zeit am falschen Ort warst – jetzt haben wir dich auf dem Radar. Wohin du auch gehst, was immer<br />
du tust, wir werden dir dabei zuschauen. Du hast dich benommen, als habest du was zu verbergen. Und so was<br />
mögen wir gar nicht.“<br />
So kitschig es klingt: Alles, woran mein Gehirn denken konnte, war dieser Satz „wenn uns das überzeugt, dass du<br />
bloß zur falschen Zeit am falschen Ort warst“. Das war das Schlimmste, was mir jemals passiert war. Niemals zuvor<br />
hatte ich mich so erbärmlich und ängstlich gefühlt. Diese Wörter, „zur falschen Zeit am falschen Ort“, diese sechs<br />
Wörter, sie waren wie ein Rettungsring vor mir, während ich strampelte, um den Kopf über Wasser zu halten.<br />
„Hallo, Marcus?“ Sie schnipste mit den Fingern vor meiner Nase. „Hierher, Marcus.“ Ein kleines Lächeln zeigte sich<br />
auf ihrem Gesicht, und ich hasste mich dafür, ihr meine Angst gezeigt zu haben. „Marcus, es kann noch viel schlimmer<br />
werden als jetzt. Dies ist längst nicht der übelste Ort, an den wir dich bringen können, ganz gewiss nicht.“ Sie<br />
griff unter den Tisch und holte eine Aktentasche hervor, die sie aufklappte. Heraus zog sie mein Handy, den RFID-<br />
Killer/Kloner, meinen WLAN-Finder und meine Speichersticks. Eins nach dem anderen legte sie auf den Tisch.<br />
„Hör zu, was wir von dir erwarten. Heute entsperrst du dein Telefon für uns. Damit verdienst du dir Frischluftund<br />
Badeprivilegien. Du wirst duschen dürfen und im Innenhof ein paar Schritte gehen. Morgen bringen wir dich<br />
wieder her, und dann werden wir dich bitten, die Daten auf diesen Speichersticks zu dechiffrieren. Wenn du das<br />
machst, verdienst du dir ein Essen in der Messe. Noch einen Tag später werden wir dich nach deinen E-M<strong>ai</strong>l-Passworten<br />
fragen, und das wird dir Bibliotheksprivilegien einbringen.“<br />
Mir lag das Wort Nein auf der Zunge wie ein Rülpser im Entstehen, aber es kam nicht. Stattdessen kam ein<br />
„Warum?“<br />
„Wir müssen sicherstellen, dass du der bist, der du zu sein scheinst. Hier geht es um deine Sicherheit, Marcus. Mag<br />
sein, du bist unschuldig. Vielleicht bist du wirklich unschuldig, obwohl mir nicht klar ist, welcher unschuldige<br />
Mensch so tut, als ob er so viel zu verbergen hätte. Aber mal angenommen, du bist unschuldig: Du hättest auf<br />
dieser Brücke sein können, als sie in die Luft flog. Deine Eltern hätten dort sein können. Deine Freunde. Willst du<br />
nicht auch, dass wir die Leute fangen, die deine Heimat angegriffen haben?“<br />
Merkwürdig: Als sie über die „Privilegien“ sprach, die ich mir verdienen könnte, machte mich das so ängstlich,<br />
dass ich hätte nachgeben mögen. Ich fühlte mich grade so, als ob ich irgendwas dazu beigetragen hätte, hier zu<br />
landen, als ob ich teilweise selbst dran schuld wäre, als ob ich irgendetwas daran ändern könnte.<br />
Aber als sie mit diesem „Sicherheits“-Scheiß anfing, da kam mein Rückgrat zurück. „Hören Sie“, sagte ich, „Sie<br />
sprechen darüber, wie meine Heimat angegriffen wird, aber wie ich es sehe, sind Sie die einzigen, die mich in letzter<br />
Zeit angegriffen haben. Ich dachte, ich lebe in einem Land mit einer Verfassung. Ich dachte, ich lebe in einem<br />
Land, in dem ich Rechte habe. Aber sie reden davon, meine Freiheit zu verteidigen, indem Sie die Bill of Rights<br />
zerreißen.“<br />
Cory Doctorow: Little Brother x