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Kapitel 5<br />
Dieses Kapitel ist Secret Headquarters in Los Angeles gewidmet, meinem endgültigen Lieblingscomicladen der ganzen Welt. Er ist klein und wählerisch<br />
bei seinem Angebot, und jedes Mal, wenn ich dort reingehe, komme ich mit drei, vier Sammlungen unterm Arm wieder raus, von denen ich vorher noch<br />
nie gehört hatte. Man könnte meinen, die Eigentümer, Dave und David, haben ein untrügliches Gespür dafür, was ich grade brauche, und drapieren<br />
immer genau das extra für mich, bevor ich in den Laden komme. Ungefähr drei Viertel all meiner Lieblingscomics habe ich kennen gelernt, indem ich bei<br />
SHQ reinging, irgendwas Interessantes schnappte, mich in einen der bequemen Stühle fallen ließ und merkte, wie ich in eine fremde Welt davongetragen<br />
wurde. Als meine zweite Kurzgeschichtensammlung, OVERCLOCKED, erschien, gaben sie in Zusammenarbeit mit einem ortsansässigen Illustrator,<br />
Martin Cenreda, einen Gratis-Mini-Comic heraus, der auf „Printcrime“, der ersten Geschichte des Buchs, basierte. Ich habe L.A. vor rund einem Jahr<br />
verlassen, und auf der Liste der Dinge, die ich vermisse, steht Secret Headquarters ganz oben.<br />
Secret Headquarters: http://www.thesecretheadquarters.com/ 3817 W. Sunset Boulevard, Los Angeles, CA 90026 +1 323 666 2228<br />
ber es war Van, und sie weinte wirklich, als sie mich so kräftig umarmte, dass ich keine Luft bekam. Egal. Ich<br />
Adrückte sie wieder, mein Gesicht in ihrem Haar.<br />
„Du bist okay!“, sagte sie.<br />
„Ich bin okay“, brachte ich hervor.<br />
Schließlich ließ sie von mir ab, und ein zweites Paar Arme schlang sich um mich. Jolu! Sie waren beide hier. Er<br />
flüsterte mir „du bist in Sicherheit, Kumpel“ ins Ohr und umarmte mich noch heftiger als zuvor Van.<br />
Als er mich losließ, schaute ich mich um. „Wo ist Darryl?“, fragte ich.<br />
Sie sahen einander an. „Vielleicht noch im Truck“, sagte Jolu.<br />
Wir drehten uns um und betrachteten den Laster am Ende der Gasse. Es war ein unscheinbarer weißer Neunachser.<br />
Die kleine Falt-Treppe hatte schon jemand eingezogen. Die Rücklichter leuchteten rot, und der Truck<br />
rollte unter ständigem „piep, piep, piep“ im Rückwärtsgang auf uns zu.<br />
„Warten Sie!“, schrie ich, als er in unsere Richtung beschleunigte. „Warten Sie! Was ist mit Darryl?“ Der Truck kam<br />
näher. Ich schrie weiter, „was ist mit Darryl?“<br />
Jolu und Vanessa nahmen mich bei den Armen und zerrten mich weg. Ich wehrte mich dagegen und schrie. Der<br />
Laster erreichte den Anfang der Gasse, schwenkte auf die Straße und fuhr bergab davon. Ich wollte hinterherrennen,<br />
aber Van und Jolu ließen mich nicht los.<br />
Ich setzte mich auf den Bürgersteig, zog die Knie an und weinte. Ich weinte, weinte, weinte, lautes Schluchzen,<br />
wie ich es zuletzt als kleines Kind getan hatte. Es hörte nicht auf, und ich hörte nicht auf zu zittern.<br />
Vanessa und Jolu halfen mir hoch und zogen mich ein Stückchen die Straße hoch. Da gabs ne Stadtbushaltestelle<br />
mit einer Bank, auf die setzten sie mich drauf. Sie weinten beide auch; so hielten wir uns ne Weile gegenseitig fest,<br />
und ich wusste, wir weinten um Darryl, den wir alle wohl nie wiedersehen würden.<br />
x<br />
Wir waren nördlich von Chinatown, in der Ecke, wo es in North Beach übergeht; ein Viertel mit einigen Neon-<br />
Stripclubs und dem legendären Subkultur-Buchladen City Lights, wo damals in den 1950ern die Beat-Dichterbewegung<br />
begründet worden war.<br />
Diesen Teil der Stadt kannte ich gut. Hier gab es den Lieblings-Italiener meiner Eltern, und sie nahmen mich gern<br />
dorthin mit auf Monsterportionen Linguine, üppige Berge italienischer Eiscreme mit kandierten Feigen und hinterher<br />
tödliche kleine Espressos.<br />
Jetzt war es ein anderer Ort. Ein Ort, an dem ich zum ersten Mal nach einer gefühlten Ewigkeit die Freiheit<br />
schmeckte.<br />
Wir kramten unsere Taschen durch und fanden genug Geld, um uns einen Tisch bei einem der italienischen Restaurants<br />
erlauben zu können, auf dem Bürgersteig, unter einer Markise. Die hübsche Bedienung entzündete einen<br />
Gas-Heizpilz mit einem Grillfeuerzeug, nahm unsere Bestellungen auf und ging nach drinnen. Das Gefühl, Aufträge<br />
erteilen zu können, mein Schicksal unter meiner Kontrolle zu wissen, war das faszinierendste Gefühl, das ich<br />
kannte.<br />
„Wie lang waren wir da drin?“, fragte ich.<br />
„Sechs Tage“, entgegnete Vanessa.<br />
„Ich komm auf fünf“, sagte Jolu.<br />
„Ich hab nicht gezählt.“<br />
x Cory Doctorow: Little Brother