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„Ich weiß nicht, was ich sagen soll“, sagte ich.<br />
„Du musst nichts sagen“, entgegnete er. „Ich wollte bloß, dass dus weißt, damit dus verstehen kannst.“<br />
Ich konnte Leute auf dem Nebenweg auf uns zukommen sehen. Es waren Freunde von Jolu, zwei Mexikaner und<br />
ein Mädchen, das ich vom Sehen kannte, klein und eher der intellektuelle Typ; sie trug immer süße schwarze<br />
Buddy-Holly-Brillen, die sie aussehen ließen wie eine ausgestoßene Kunststudentin in einem dieser Teenie-Streifen,<br />
die schließlich den Megaerfolg landet.<br />
Jolu stellte mich vor und verteilte Bier. Das Mädchen nahm keins, sondern holte einen kleinen silbernen Flachmann<br />
mit Wodka aus ihrer Handtasche und bot mir einen Schluck an. Ich nahm einen – warmer Wodka muss ein<br />
anerzogener Geschmack sein – und beglückwünschte sie zu dem Fläschchen, das mit einem wiederholten Motiv<br />
aus Parappa-the-Rapper-Charakteren geprägt war.<br />
„Ist japanisch“, sagte sie, während ich es mit einem LED-Schlüsselanhänger begutachtete. „Die haben jede Menge<br />
irren Trinkerbedarf mit Kinderspielzeug-Motiven. Total abgefahren.“<br />
Ich stellte mich vor und sie sich auch. „Ange“, sagte sie und nahm meine Hand in ihre beiden Hände – trocken,<br />
warm, mit kurzen Fingernägeln. Jolu stellte mich seinen Kumpels vor, die er schon seit dem Computercamp in<br />
der vierten Klasse kannte. Dann kamen noch mehr Leute – fünf, zehn, dann zwanzig. Jetzt wars eine richtig große<br />
Gruppe.<br />
Wir hatten den Leuten eingeschärft, bis Punkt halb zehn da zu sein, und warteten bis viertel vor, um zu sehen,<br />
wer alles kommen würde. Ungefähr drei Viertel waren Jolus Freunde. Ich hatte alle Leute eingeladen, denen ich<br />
vertraute. Entweder war ich wählerischer als Jolu oder nicht so beliebt. Aber da er mir nun erzählt hatte, dass er<br />
aufhören wolle, nahm ich an, dass er weniger wählerisch war. Ich war echt stinkig auf ihn, aber versuchte es mir<br />
nicht anmerken zu lassen, indem ich mich drauf konzentrierte, mit ein paar anderen Leuten bekannt zu werden.<br />
Aber er war nicht blöd. Er wusste, was los war. Ich konnte ihm ansehen, dass er ziemlich niedergeschlagen war.<br />
Gut.<br />
„Okay“, sagte ich und kletterte auf eine der Ruinen, „okay, hey, hallo?“ Ein paar Leute in der Nähe schenkten mir<br />
ihre Beachtung, aber die weiter hinten schnatterten weiter. Ich hob meine Arme in die Höhe wie ein Schiedsrichter,<br />
aber es war zu dunkel. Dann kam ich auf die Idee, meinen LED-Schlüsselanhänger anzuknipsen und immer<br />
abwechselnd einen der Sprecher und dann mich selbst anzublinken. Nach und nach wurde die Menge still.<br />
Ich begrüßte sie und dankte ihnen allen fürs Kommen, dann bat ich sie darum, näher ranzukommen, um ihnen<br />
erklären zu können, warum wir hier waren. Ich merkte, dass sie von der Geheimnistuerei schon angesteckt waren,<br />
fasziniert und ein bisschen angewärmt vom Bier.<br />
„Also, es geht darum: Ihr benutzt alle das Xnet. Es ist kein Zufall, dass das Xnet so kurz, nachdem das DHS die Stadt<br />
übernommen hat, entstanden ist. Die Leute, die das angeleiert haben, sind eine Organisation, die sich persönliche<br />
Freiheit auf die Fahne geschrieben hat und die für uns ein Netzwerk geschaffen haben, in dem wir sicher vor DHS-<br />
Schnüfflern und Vollstreckern sind.“ Jolu und ich hatten uns das vorher so zurechtgelegt. Wir wollten uns nicht als<br />
die Leute hinter dem Ganzen offenbaren, nicht gegenüber jedem. Das war viel zu riskant. Stattdessen hatten wir<br />
ausgetüftelt, dass wir bloß Leutnants in „M1k3y“s Armee seien und damit beauftragt, den örtlichen Widerstand zu<br />
organisieren.<br />
„Das Xnet ist nicht rein“, sagte ich. „Es kann von der Gegenseite genauso einfach benutzt werden wie von uns.<br />
Wir wissen, dass es DHS-Spione gibt, die es gerade in diesem Moment benutzen. Sie verwenden Techniken sozialer<br />
Manipulation, um uns dazu zu bringen, unsere Identität offenzulegen, damit sie uns hochgehen lassen können.<br />
Wenn das Xnet erfolgreich bleiben soll, dann müssen wir Mittel und Wege finden, wie wir sie davon abhalten können,<br />
uns auszuschnüffeln. Wir brauchen ein Netzwerk innerhalb des Netzwerks.“<br />
Ich machte ne Pause und ließ das sacken. Jolu hatte gemeint, es sei vielleicht harter Stoff, zu erfahren, dass man<br />
gerade in eine revolutionäre Zelle eingeführt wird.<br />
„Ich bin heute nicht hier, um euch darum zu bitten, selbst aktiv zu werden. Ihr sollt nicht losgehen und Systeme<br />
jammen oder so was. Ihr seid hierher gebeten worden, weil wir wissen, dass ihr cool seid; dass ihr vertrauenswürdig<br />
seid. Und diese Vertrauenswürdigkeit ist es, von der ich möchte, dass ihr sie heute Nacht hier einbringt.<br />
Ein paar von euch sind wahrscheinlich schon vertraut mit dem Konzept vom Web of Trust und mit Keysigning-<br />
Partys, aber für den Rest von euch will ich das noch mal kurz erklären …“ Was ich dann auch tat.<br />
„Was ich heute Nacht von euch möchte, ist, dass ihr euch die Leute hier anschaut und euch überlegt, wie weit ihr<br />
ihnen trauen könnt. Dann helfen wir euch, Schlüsselpaare zu erzeugen und mit allen anderen hier zu tauschen.“<br />
x Cory Doctorow: Little Brother