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zur Rezension - Iudicium Verlag GmbH

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202<br />

lingsgasse bleibt die Welt der Großstadt<br />

explizit ausgeschlossen, bleibt jedoch im<br />

Topos der »großen Stadt« als einer unsichtbaren<br />

negativen Macht, vor der der<br />

Erzähler den Rückzug an einen sicheren<br />

Ort gesucht hat, stets präsent.<br />

Zeigt Berlin bis <strong>zur</strong> Mitte des 19. Jahrhunderts<br />

(im Gegensatz zu London oder<br />

Paris) eher provinzielle Züge, die sich<br />

auch in der Wahl der literarischen Darstellungsperspektiven<br />

deutlich widerspiegeln,<br />

so beginnt mit der Gründung<br />

des Deutschen Reiches 1871 »die explosionsartige<br />

Entwicklung Berlins <strong>zur</strong> politisch-kulturellen<br />

und wirtschaftlich-industriellen<br />

Metropole« (137). Dieses Berlin<br />

der Gründerzeit bildet den Schauplatz<br />

einer Reihe von Romanen Theodor Fontanes<br />

(u. a. L’Adultera, Irrungen, Wirrungen,<br />

Frau Jenny Treibel). Dargestellt aus<br />

der distanzierten Perspektive eines auktorialen<br />

Erzählers, finden sich in ihnen<br />

eine Vielzahl realistischer Detailbeschreibungen<br />

der geographischen und sozialen<br />

Topographie Berlins als einer »wachsende[n],<br />

keinesfalls jedoch […] unübersichtliche[n]<br />

oder metropolenhafte[n]<br />

Großstadt« (148).<br />

In den knapp 30 Jahren von der Reichsgründung<br />

bis zum Ende des 19. Jahrhunderts<br />

macht Berlin in einem rasanten und<br />

oft unkontrollierten Wachstumsprozeß<br />

die Entwicklung hin zu einer Metropole<br />

durch, die sich mit anderen europäischen<br />

Großstädten messen kann: Der »Moloch<br />

Großstadt« als literarisches Sujet ist geboren<br />

und fordert in der Lyrik wie in der<br />

Erzählliteratur neue Darstellungsformen<br />

heraus. Erst jetzt kann man im Zusammenhang<br />

der Berlin-Literatur von einer<br />

Großstadtliteratur im eigentlichen Sinne<br />

sprechen. »Berlin als Großstadt: Dynamisierungen<br />

und Modernisierungen der<br />

literarischen Wahrnehmung und Beschreibung«<br />

nennt Kiesler dementsprechend<br />

das Kapitel 4.3 seiner Untersuchung.<br />

So wird bereits bei den frühnatu-<br />

ralistischen Autoren, wie Kiesler an Julius<br />

Harts Gedicht Auf der Fahrt nach<br />

Berlin (1885) aufzeigen kann, »das traditionelle<br />

Ruhepunktpanorama […] von<br />

einer dynamisierten Wahrnehmungsform<br />

abgelöst« (206). Nach einer Zeit der<br />

Abkehr von der Großstadt (nicht zuletzt<br />

unter dem Einfluß von Nietzsches kulturund<br />

großstadtkritischen Schriften) setzt<br />

mit den jungen Autoren des frühen<br />

Expressionismus, deren Zentrum Berlin<br />

ist, um 1910 eine weitere Phase der<br />

Großstadtlyrik ein, in deren Mittelpunkt<br />

weniger »die Großstadt an sich« als »die<br />

literarische Imagination der Großstadt«<br />

steht. Wie eine mimetisch verfahrende<br />

Großstadtlyrik hier von einer Darstellungsform<br />

abgelöst wird, die einen mit<br />

mythisch verfremdeten Bildern erfüllten,<br />

atemporalen, imaginativen Raum konstituiert,<br />

in dem keine eindeutige Origo des<br />

Sprechens auszumachen ist, zeigt Kiesler<br />

am Beispiel von Georg Heyms Gedicht<br />

Der Gott der Stadt (1910) auf.<br />

In einer Untersuchung <strong>zur</strong> literarischen<br />

Darstellung Berlins darf selbstverständlich<br />

der Roman nicht fehlen, der – nicht<br />

zuletzt aufgrund der Tatsache, daß die<br />

Stadt selbst hier zum Protagonisten wird<br />

– als der Berlin- und Großstadtroman<br />

schlechthin gilt: Alfred Döblins 1929 veröffentlichter<br />

Roman Berlin Alexanderplatz.<br />

Über das Verfahren der gegenseitigen<br />

Erhellung von linguistischer und literaturwissenschaftlicher<br />

Analyse ausgewählter<br />

Passagen des Romans gelingt es<br />

Kiesler, sowohl die multiplen Erzählperspektiven<br />

genau zu rekonstruieren, als<br />

diese auch in ihrem funktionalen Zusammenhang<br />

der Darstellung der »Ungleichzeitigkeiten<br />

und Divergenzen« (181) des<br />

Berlins der Weimarer Republik näher zu<br />

beleuchten. Ganz andere literarische Verfahren<br />

der Erfassung der Großstadt als<br />

Döblin wählt Franz Hessel in seinem<br />

ebenfalls im Jahr 1929 erschienenen Prosatext<br />

Ein Flaneur in Berlin. Das in der

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