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zur Rezension - Iudicium Verlag GmbH

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führt, die als ein »wishful reading« ideologische<br />

Vorgaben durch willkürliche<br />

Annahmen ohne Rücksicht auf historische<br />

Semantik oder Ikonographie und<br />

durch konstruierte soziologische, kulturtheoretische<br />

und psychoanalytische Subtexte<br />

stützt, wobei alles als Symbol für<br />

alles gelesen werden kann. Dabei beansprucht<br />

der extreme Skeptizismus paradoxerweise<br />

auch noch Allgemeingültigkeit.<br />

Zwar sind die Errungenschaften des<br />

Poststrukturalismus wie Bedeutungsvielfalt,<br />

Lesersubstitution, Interesse für<br />

randständige Texte, das Konzept der<br />

Autor-Leser-Kommunikation, Literatur<br />

als Kulturpraxis im kulturwissenschaftlichen<br />

Rahmen usw. durchaus zu nutzen,<br />

aber »ohne seine extremen Willkürformen<br />

und wissenschaftsethischen Normverstöße<br />

zu übernehmen«.<br />

Der Beitrag des Erziehungswissenschaftlers<br />

Norbert Hilgenheger »Texte als Medien<br />

der Bildung oder Eine medientheoretische<br />

Überlegung <strong>zur</strong> Problematik des<br />

genauen Lesens« geht vom klassischen<br />

Bildungsziel Lesen und seinen Teilfertigkeiten<br />

aus. Da es weniger um die Genauigkeit<br />

des Lesens als des Verstehens geht,<br />

wäre »Textnähe« durch »Weltnähe« zu<br />

ergänzen und die These der heutigen<br />

Ungenauigkeit und Unsensibilität des<br />

Lesens zu differenzieren. Neue Medientheorien<br />

betonen statt der Inhalte eher<br />

die mediale Form der Bildung und die<br />

formalen Eigenschaften des modernen<br />

alphabetischen Codes, der dazu tendiert,<br />

durch fortschreitende Formalisierung,<br />

Genauigkeit und Opazität Imagination<br />

und Sensibilität (des früheren Bildercodes)<br />

zu verdrängen. Der verständige<br />

Leser muss deshalb einen Mittelweg zwischen<br />

Genauigkeit und Sensibilität wie<br />

zwischen Intensität und Vielfalt der Lektüre<br />

suchen. Und Lesegenauigkeit kann<br />

bei den einzelnen Schritten des empirischen<br />

Leseprozesses (semantische Reco-<br />

dierung, Sachbezug, Wahrheitsgehalt)<br />

sehr unterschiedlich aussehen.<br />

Ladenthins offenbar an Schulen erfolgreicher<br />

Vortrag »Kann man Kästner interpretieren?«<br />

kritisiert zu Recht die öffentliche<br />

wie fachwissenschaftliche Rezeption<br />

Erich Kästners als Musterbeispiel<br />

dafür, wie ein moderner »Klassiker« einerseits<br />

auf Biographie und Psychologie<br />

reduziert und sein Schreiben andererseits<br />

als direkt zu verstehende Meinungsäußerung<br />

und politisch-weltanschauliche<br />

Aussage verstanden wird, die je nach<br />

Standpunkt aufgenommen und bewertet<br />

werden kann. Statt nur als Beleg für<br />

Meinungen sollten seine Texte für sich<br />

gelesen werden. Fragt sich nur, wie viel<br />

»textnahe« literarische Interpretation<br />

(von Mehrdeutigkeiten und Geheimnissen)<br />

Kästners neusachliches, der Alltagssprache<br />

nahes Schreiben verlangt und<br />

verträgt.<br />

Rickes’ abschließendes »Plädoyer für<br />

eine neue Interpretationskunst« als<br />

»Kunst des poetischen Lesens« greift<br />

konsequent auf E. Staigers Die Kunst der<br />

Interpretation (1955) <strong>zur</strong>ück, die gegen<br />

ungenaues Lesen und Fehlinterpretationen<br />

verteidigt wird. Im Hinblick auf die<br />

gegenwärtigen Defizite der Germanistik,<br />

die Tendenz zu ungenauer Lektüre, den<br />

Verfall interpretativer Qualität und Kompetenz<br />

scheint eine Rückbesinnung auf<br />

Staiger nötig, auf sein genaues und sensibles<br />

Lesen ausgehend vom »Gefühl« des<br />

Interpreten (= ästhetische Empathie), auf<br />

die – weniger pathetisch verstandene –<br />

Verbindung von Herz und Verstand, auf<br />

die Ergänzung von textinternem durch<br />

historisch-philologisches Wissen.<br />

Als Probe aufs Exempel dient eine ausführliche<br />

Analyse von Paul Flemings<br />

Kußgedicht, in der bisherige Interpretationsakzente<br />

korrigiert werden. Die umständliche,<br />

schematische, spezialistische<br />

Untersuchung bestätigt allerdings vor<br />

allem das Unbehagen an der bisherigen

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