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Festivalkatalog der Ruhrtriennale 2021-V3

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Wenn ich will, dass Gäste die Stadt, in der ich wohne,

verstehen, steige ich mit ihnen auf den Fernsehturm. Von

dort oben gibt es einen guten Überblick und die Struktur

der Stadt ist schön lesbar. Also stieg ich, als ich das erste

Mal im Ruhrgebiet war, auf einen Förderturm, aber ich verstand

überhaupt nichts. Ich sah nur Hügel (später erfuhr

ich: Halden) und andere Fördertürme (später erfuhr ich:

museale Anlagen). Es war schön, aber bot weder Übersicht

noch Erkenntnis. Also bewegte ich mich fortan durch

einen von mir nicht erkannten Raum. Mit der Straßenbahn,

die merkwürdigerweise nicht Vororte miteinander

verband und dabei durch ein Zentrum fuhr, sondern Zentren

verband und dabei durch Vororte fuhr. Mit dem Auto

das meist stand und wenn es fuhr, flogen die Abfahrtsschilder

der Autobahn mit immer neuen Städte namen im

Sekundentakt an mir vorbei. Oder mit dem ICE, der viel

von Intercity aber wenig von Express hatte. Wollte ich

laufen oder Rad fahren, hieß es immer: Nein, viel zu weit.

Also stand ich oft an Haltestellen: Halte stellen neben verlassenen

Industrieanlagen, Haltestellen an Wald rändern,

Haltestellen zwischen endlosen Schienen, Haltestellen an

Schafsweiden, Tankstellen, Brücken oder direkt auf der

Autobahn. Oft dachte ich: Hier kommt nie was, denn hier

ist das Ende. Aber dann kam immer irgendwann irgendwas

– meistens relativ klein, fuhr los und wenig später

ging die Stadt – oder das, wovon alle sagten, es sei nicht

eine Stadt, sondern das Ruhrgebiet – wieder weiter. Später

fuhr ich dann doch Rad und wunderte mich über den

rasanten Wechsel von Starkstromtrassen und Schrebergärten,

Häfen und Wiesen, Häusern und Arbeitsstätten.

Immer wieder machte ich die eine Erfahrung: Es gibt kein

Ende, es geht weiter. Und immer wieder hatte ich dieses

Gefühl: Ich verstehe den Raum nicht.

Also versuchte ich, eine Karte zu kaufen, die diesen Raum

abbildet. Aber das war gar nicht so einfach: Es gab die

einzelnen Städte, das nördliche und das südliche Ruhrgebiet,

aber keinen richtigen Gesamteindruck. Dann kam

Google Earth und brachte den »Overview«. Ich konnte

endlich das Ruhrgebiet von oben betrachten. Wie merkwürdig

es aussah. So zerklüftet, so unstrukturiert und

doch so gleichmäßig. Auf jeden Fall ganz anders als andere

städtische Regionen. Was für ein urbaner Raum ist

das? Nicht zentral, sondern polyzentristisch, nicht line ar,

sondern komplex, nicht hierarchisch, sondern solidarisch?

Neben vielen Besonderheiten sticht beim ersten

Blick ins Auge: die außergewöhnliche Agglomeration von

Siedlungen, die scheinbar willkürlich durchwachsen sind

von Natur- und Industrieflächen. In einer historischen

Einmaligkeit entwickelte sich das Ruhrgebiet gleichzeitig

mit und durch die Extraktion der Steinkohle und ihre Verarbeitung.

Dies meint nicht nur Industrieareale und ihre

architektonischen Überreste, sondern auch die Aufteilungen

zwischen Wohnanlagen, Natur und Industrie. Was

anderenorts getrennt ist, liegt hier alles zusammen. Alle

Räume sind dem Primat der Montanindustrie nachgeordnet,

durch die einzelnen Nutzungsräume sind Zwischenräume

entstanden, die anschließend in ihrer Bestimmung

definiert wurden.

Dieser Blick von oben ist in den letzten Jahren immer wieder

beschrieben worden, aus der Perspektive der Stadtplanung,

der Soziologie, der Politik. Zentrale Merkmale des

Ruhrgebiets wurden erkannt und diese strukturelle Besonderheit

mit dem Begriff »Ruhrbanität« ausgezeichnet.

Einige Begriffe, wie etwa »Dezentralität«, sind mittlerweile

ins Selbstverständnis der Region und Merkwürdigkeiten

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