ES SCHÜRFTZURÜCKBARBARA FREY UND UTA C. SCHMIDT—EINE BEGEGNUNGIn Es schürft zurück begegnen sich die Gedankenwelten der Regisseurin undRuhrtriennale-Intendantin Barbara Frey und der aus Herne kommendenGeschichtswissenschaftlerin und Geschlechterforscherin Dr. Uta C. Schmidt.Während Spaziergängen durch das Ruhrgebiet und der gemeinsamenLektüre von Edgar Allan Poes Der Untergang des Hauses Usher halten sie Ausschaunach Rissen, Mythen und melancholischem Geist – Ästhetisches undHistorisches nähern sich an.DER UNTERGANG DES HAUSES USHEREdgar Allan Poe / Barbara FreySchauspiel ab 14. August 2021Siehe S. 24 _______________ www.ruhr3.com/usher144
Uta C. Schmidt: Zuerst möchte ich mich bedanken, dassmit Ihrer Einladung so plötzlich und unerwartet Edgar AllenPoe in mein Leben getreten ist. Die Geschichte Poes hatja erst einmal nichts mit dem Ruhrgebiet zu tun. Interessanterweisefinde ich als Historikerin aber sofort Anknüpfungspunkte.Bereits der Einstieg in die Geschichte erinnertmich an Reise berichte von Schriftstellern des 19. undfrühen 20. Jahrhunderts, die von außen hierherkamen unddas, was sie sahen, hörten, fühlten, rochen, zu beschreibenversuchten. Sie empfanden stets eine tiefgreifendeNiedergeschlagenheit. Was historisch gesehen durchausmit diesem Arbeitsort zu tun hatte, mit dem harten Lebender Arbeitsbevölkerung und der Umweltverschmutzung.Man wurde wohl wirklich niedergeschlagen, wenn manall das Elend gesehen hat. Für mich war das irre: Alsich in den Untergang des Hauses Usher hineingezogenwurde und dachte: Ja, das kann eine Möglichkeit sein,sich dieser historischen Erfahrungswelt in einer anderenSprache zu nähern.Barbara Frey: Zum Beispiel bei diesen Sätzen von Poe:»Ich weiß nicht, wie es zuging – aber schon beim erstenflüchtigen Anblick des Gebäudes überkam mich eineEmpfindung unerträglicher Melancholie. Ich sage unerträglich;denn das Gefühl wurde durch keine jenerhalb angenehmen, weil poetischen Regungen gemildert,mit denen das Gemüt gewöhnlich selbst die finsterstenNatureindrücke des Öden und Schrecklichenaufnimmt.«Hier taucht der selbstreflexive Dichter kurz auf und sagt:Es ist anders als sonst, nämlich ohne jeden Anflug vonPoesie – ein unheimlicher Gedanke.UCS: Und für mich, die sich ja bewusst für ein Leben imHier und Jetzt des Ruhrgebiets entscheidet, gibt es abseitsder »bürgerlichen Rede«, dass es hier so schrecklichaussieht, auch eine eigene Poesie. Wenn ich mitIhnen durch Wattenscheid fahre oder nach Herne aufdie Wiescherstraße, wo wir inmitten all dieser Baustileund Stadtentwicklungsprojekte der 1960er-Jahre stehen,dann sieht es dort nicht aus wie in Zürich und auch nichtwie in Berlin, es hat für mich eine eigene Gestalt. Natürlichfrage ich mich sofort: Fange ich jetzt an, das Ganzezu romantisieren?BF: An einer anderen Stelle beschreibt Poe etwas, waseigentlich nicht sein kann:»Meine Einbildungskraft war so überreizt, daß ichwahrhaftig glaubte, über dem ganzen Haus und Anwesenhänge eine Dunsthülle, nur ihnen und ihrer unmittelbarenUmgebung eigen – eine Dunsthülle, dienichts mit der Himmelsluft gemein hatte, sondern denabgestorbenen Bäumen und den grauen Mauern unddem stillen Weiher entstiegen war – ein verderblicherund geheimnisvoller Schleier, trübe, träge, kaum wahrnehmbarund von bleiernem Grau.«Was ist es, was er da sieht? Diese Zwischenwahrnehmungfinde ich interessant: Er schaut und spürtetwas und weiß gleichzeitig, dass es nicht wirklich dasein kann. Und doch ist es da.Mir ist das Ruhrgebiet ja viel fremder als Ihnen, aberfür mich stellt sich, seit ich hier bin, genau diese Frage:Stülpt sich da etwas aus meiner Vorstellung heraus,was nichts mit der Region zu tun hat, oder gibt es hiereinen bestimmten melancholischen Geist? Und wennja, wodurch entsteht er?UCS: Die Schriftsteller, die die Regionen der Montanindustriebereisten, haben die Gegend als nervös und lärmendbeschrieben, sie konnten aber auch nicht wirklichgreifen, was sie sahen. Und selbstverständlich – je nachdem,in welchem Stadium der Produktion sich Kokereienoder Hochöfen befanden, stieg ganz real eine »Dunsthülle,die nichts mit der Himmelsluft gemein hatte«, auf,und über allem lag ein »verderblicher und geheimnisvollerSchleier«, trübe, träge und von bleiernem Grau bis schwefeligemGelb, der allerdings wirklich wahrnehmbar, gesundheitsschädlichund körperlich belastend war.BF: Die reale Dunsthülle mischt sich mit der literarischen.Das Materielle dringt vollständig in die Seele ein.»Er lebte ganz im Banne gewisser abergläubischerVermutungen in Bezug auf das Haus, das er bewohnteund aus dem er sich seit vielen Jahren nicht herausgewagthatte; er fühlte sich einem Einfluß ausgesetzt,dessen vorgebliche Macht in allzu vagen Worten umschriebenwurde, als daß ich sie hier wiedergebenkönnte […] einem Einfluß, den das rein Stoffliche dergrauen Mauern und Türmchen und des düsteren Weihers,in den sie alle hinabschauten, nunmehr auf dengeistigen Kern seines Daseins ausübte.«UCS: Dies ist eine Stelle, bei der mir ein Erlebnis aus Gelsenkirchenin den Sinn kam: Gelsenkirchen hat seine Fußgängerzoneneu gestaltet. Ich sitze in der Sonne in einemCafé vor dem Rathaus und freue mich: »Wie schön dasgeworden ist!« Und der Mann am Nebentisch murrt: „Ja,aber im Sommer muss man immer das Unkraut da wegziehen.«Später: »Ihr habt ein tolles Theater«, es kommtdirekt zurück: »Aber was das alles kostet!« Immer wirktetwas so mächtig, dass man sich nicht freuen kann. Istdas vielleicht dieser melancholische Geist – oder nenntman das literarisch »Schwermut«?BF: Womöglich. Ich nehme die Menschen hier abernicht als schwermütig wahr …UCS: Diese Schwermut trifft vielleicht auch nur auf bestimmteGenerationen zu. Sie haben im Strukturwandelihre Arbeit und damit ihren Lebensinhalt verloren. Siewaren zudem Teil der großen heroischen Erzählung vomWiederaufbau und dem bundesrepublikanischen Wirtschaftswunder.Nun sind sie herausgefallen aus dem »Wirsind wieder wer!«. Wie tief muss der Arbeitsbegriff derIndustriegesellschaft in diesen Aufbaugenerationen verinnerlichtsein?BF: In der Literatur von Poe spielt Arbeit überhauptkeine Rolle. Es ist vielmehr das Gegenteil: Ein hochnervöserMüßiggang; man nimmt alles wahr und kanndurch Wände schauen. Es geht nie um Beruf oder Ausübungvon Arbeit. Poe ist ein antibürgerlicher Schriftstellergewesen. Es gibt bei ihm keine moralische Erbauung,keine Bildungsbegriffe, keinen jungen Helden,der auf Reisen geht und geläutert zurückkommt. Esgibt überhaupt keine Helden.Ist die Melancholie bei Poe, die aus dem endlosenGrau der Tage aufsteigt, eine andere als die, die aufden Wegfall der Arbeit folgt? Wie nehmen denn dieLeute, die jeden Tag an den Zechen und Kokereienvorbeifahren, diese wahr? Assoziieren sie etwas145
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