09.05.2022 Aufrufe

Festivalkatalog der Ruhrtriennale 2021-V3

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

schichte ein Ende gefunden. Aber jetzt beginnt die große

Zeit des Mythos. Und daran arbeiten Menschen von unterschiedlichen

Orten aus: Da gibt es Gruppen, die diese

Kumpel-Nummer fahren mit blau-weiß gestreiften Hemden

und »harte Arbeit« beschwören. Es gibt die Szene, die

Lust hat auf urbanes Leben, die sagt: Hier können wir, anders

als in Berlin, Dinge machen, hier gibt’s noch etwas zu

entwickeln. Und natürlich kann man mit Herbert Grönemeyer

»tief im Westen« an der Currywurstbude stehen

und den Mythos dort leben.

BF: Es hat ja auch etwas Heroisches, wenn man über

einen Untergang sprechen kann und dass es nie wieder

so sein wird, wie es war. Man hält es sich damit auch

ein Stück weit vom Leib und mystifiziert es.

Könnte ein Teil der hier spürbaren Melancholie nicht

auch daher rühren, dass der Bergbau gefährlich war

und der Tod in der Grube lauerte? Das muss ja auch

irgendwo »hingegangen« sein.

UCS: Frauen, Mütter, Töchter von Bergleuten unterschiedlicher

Generationen berichteten, dass die Angst immer

präsent war, dass »er nicht mehr nach Hause kommt«.

Doch sie haben sich damit arrangiert und die Oma gut

gepflegt, um möglichst lange von ihrer Bergbau-Rente zu

profitieren, um das mal in ein provokantes Bild zu fassen.

Es könnte schon sein, dass sich aus diesem Spannungsverhältnis

eine Melancholie in die Region eingeschrieben

hat, die noch präsent ist.

BF: Wo sind die Risse und Schneckenspuren in unserer

Zivilisation? Was transportiert der Haarriss, der sich

über die Fassade des Hauses Usher zieht?

Bei Poe muss man abtauchen. Es ist ein In-die-Dunkelheit-Hineingehen

und dabei verlässt man die Welt, in

der man ist, und kommt als Leser:in mit einer anderen

Welt angereichert zurück. Dieser Weltenwechsel ist für

mich auch im Zusammenhang mit dem Bergbau interessant.

Und die Figur, die diesen Wechsel hier für mich vollzieht,

ist der Kumpel, der zum Helden wird, weil er mir irgendwie

das Gefühl gibt, ich wäre selbst hinabgestiegen, als

wäre das ganze Ruhrgebiet in der Grube gewesen. Die,

die wirklich in die Grube gegangen sind, haben eine

Stellvertreterfunktion.

UCS: Immer Zeche und Stahlwerk, doch nicht erst mit den

Universitäten in den 60er-Jahren hat es im Ruhrgebiet

eine Bildungsgesellschaft gegeben, haben sich ganz viele

»Aufstiegsbiografien« entwickelt. Das ist mindestens genauso

wichtig für die heutige Erzählung der Region wie der

Bergbau, der übrigens viel zu dieser Bildungslandschaft

beigetragen hat. Doch die spezielle Folklorisierung und

Romantisierung des Bergbaus läuft auf Hochtouren.

BF: Könnte diese Folklorisierung auch eine Form der

Besänftigung sein? Eine Linderung des Schmerzes

über den Verlust eines »goldenen Zeitalters«, eines

Gefühls der Zusammengehörigkeit? Dieser Schmerz

steckt in allen Künsten: Er ist das Erkennen der eigenen

Einsamkeit.

UCS: Es ist doch eine Perspektive, die Sie zum Glück

in Ihrer Auseinandersetzung mit dem Ruhrgebiet einnehmen

können! Denn alles andere würde ja zu nichts

Neuem führen.

Und ich werde herausgefordert, hinter meine Geschichtswissenschaft

zurückzutreten, um diese literarische Erfahrung

an mich heranzulassen. Auch das Ende vom

Untergang des Hauses Usher eröffnet Assoziationen zur

realen Situation: Da ist der »tiefe dumpfige Teich« und das

»Gebraus von tausend Wassern«, das nicht nur in der

Literatur am Hause Usher tobt, sondern auch real im Ruhrgebiet

bedrohlich wirkt. Wenn das Grubenwasser in der

Bergbaufolgelandschaft nicht permanent weggepumpt

würde, gäbe es bald das Ruhrgebiet nicht mehr. Doch in

der Literatur muss der Untergang kommen …

BF: Er ereignet sich über ein Geräusch – ein »lärmendes

Tosen« – und dann Stille.

»Während ich noch starrte, wurde dieser Riß zusehends

breiter – ein wütender Stoß des Wirbelsturms

fuhr daher – das ganze Rund des Erdtrabanten wurde

plötzlich sichtbar – schwindelnd sah ich die mächtigen

Mauern auseinanderbersten – hörte ein langes lärmendes

Tosen wie das Gebraus von tausend Wassern –

und der tiefe dumpfige Teich zu meinen Füßen schloß

sich langsam und lautlos über den Trümmern des

Hauses Usher.«

Poe, Edgar Allen: Der Untergang des Hauses Usher, in: Sämtliche Erzählungen / Edgar Allen Poe (1. Band), herausgegeben von: Günter Gentsch,

übersetzt von: Barbara Cramer-Nauhaus, Insel-Verlag, Frankfurt/Main 2002, S.297–320.

Fotos: Daniel Sadrowski

148

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!