Festivalkatalog der Ruhrtriennale 2021-V3
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
durch den Wald, der sich vom historischen Zentrum Salzburgs
hochzieht bis zur Kuppe des Kapuzinerbergs. Mit
ihren Schritten lösen sie Signale aus, die in den Bäumen
und im Unterholz verborgene Scheinwerfer aufblenden
lassen. Ein feines Gespinst aus Strahlenkränzen setzt ein
magisches Naturspektakel in Gang. Der Wald leuchtet
auf und verdunkelt sich wieder. Die Grenze zwischen
natürlicher und modellierter Natur verwischt, während
der Mensch eine veränderte Rolle einnimmt. Schritt für
Schritt erschafft er eine alternative Form von Landschaft.
Für diese Einwanderung des Künstlichen müssen erst
noch Namen und Begriffe gefunden werden.
2011 ist ein Schwellenjahr. Es ist das Jahr, in dem ein Tsunami
die Nuklearkatastrophe von Fukushima auslöst, deren
Wirkung die ganze Welt erfasst. Schockartig führen
uns die Bilder, die uns aus Tohoku, dem Nordosten Japans,
erreichen, vor Augen, wie verletzbar unser Planet, wie
irritierbar sein Gleichgewicht und wie hoch die Verantwortung
ist, die der Mensch für diese globale Kata strophe
trägt. 2011 ist das Jahr, mit dem die Ankunft des menschengemachten
Zeitalters zu einer unleugbaren Realität
wird. Der Begriff des Anthropozäns wurde schon um die
Jahrtausendwende von dem Atmosphärenforscher Paul
Crutzen in die Diskussion geworfen, als er einen Namen
improvisierte für den wachsenden Einfluss menschlichen
Handelns auf biologische, chemische und meteorologische
Prozesse. Der Begriff sollte noch eine ganze Weile
ein rätselhaftes Abstraktum bleiben und in Wissenschaftskreisen
kursieren, bevor er über philosophische Diskurse
und die Protestkulturen der Klimaaktivisten im Alltag von
Politik und Kunst ankommt. Und mit einem Mal wird klar,
was er eigentlich bedeutet: Unsere Vorstellung von der
Natur ist überholt. Der Mensch formt die Natur, und die
Folgen seines Handelns sind irreversibel. Bildhafter und
poetischer hat es Peter Sloterdijk formuliert: Die Atmosphäre
hat ein Gedächtnis.
Heute, zehn Jahre später, begegnen wir längst auch auf der
Bühne diesen veränderten Kräfteverhältnissen. Bis vor
wenigen Jahren gingen Tanz und Theater von einem Weltgefühl
aus, das bewusst den Menschen, seine Stimme,
seinen Körper, in die Mitte der Welt rückt. Was bedeutet
es, wenn nicht mehr der Mensch im Zentrum der Aufmerksamkeit
steht? Wenn materielle Formationen, ein künstliches
Subjekt, ein Gerät, eine Maske oder ein digitaler
Tanzpartner an seine Seite treten und die Verhältnisse
zum Tanzen bringen. The Artificial Nature Project (2012)
ist im Echoraum dieser Ereignisse entstanden. Auf Mette
Ingvartsen und die künstlerische Richtung, die ihr Werk
nehmen wird, wirkt die Stimmung dieses Katastrophenjahres
wie ein Vorzeichen der kommenden Stunde. Allerdings
belässt sie es nicht bei theoretischen Erkenntnissen,
ihre Sache ist die Theatralisierung naturwissenschaft licher
Fragestellungen. Dazu entwickelt sie Ausdrucksformen,
die sich mit ihren früheren Arbeiten amalgamieren und
den Übergang in diese veränderte Bewusstseinssphäre
sehr konkret, sehr plastisch werden lassen. Es gehe ihr,
sagt sie, um eine Form der Symbiose: »What we do
to things, things also do to us.« Das Publikum von
The Artificial Nature Project sieht sich einem künstlichen
Landschaftsbild gegenüber. Tänzer:innen bewegen mit
Laubbläsern Schwärme aus flirrenden Silberstreifen. Ist es
Laub, Sand oder Konfetti, was da fliegt? Ein beschleunigter
Teilchenwirbel wechselt von einem Zustand in den
nächsten, von Sphäre in Materie, von Fülle in Leere, von
passiver Starre in Dynamik, von flirrender Helligkeit in
Dunkelheit, um schließlich in eine meditative Stille überzugehen.
Eine Art Ballet Mécanique, dessen sinnliche
Schönheit zur Maske eines neuen Schreckens wird.
Mette Ingvartsen hat sich und ihre Kompanie als eine
der ersten an einer tieferen Reflexion über Ökologie und
das Zusammenspiel menschlicher und nichtmenschlicher
Subjekte ausgerichtet. Was bedeutet ein Mindset, das sich
einem respektvollen Umgang mit Natur und Ressourcen
verpflichtet, für die choreografische Praxis?
Während sich viele Künstler:innen und Kurator:innen den
neuen Parallelkörpern wie Avataren, Androiden und digitalen
Doppelgängern zuwenden, setzt Mette Ingvartsen
zu einer unerwarteten Gegenbewegung an. Ihre künstlerische
Antwort auf die posthumanen Dimensionen ist
zunächst offensiv körperlich. 2014 kündigt sie mit den
Red Pieces eine neue Werkgruppe an, in der es um die
Auseinandersetzung mit Sexualität, Pornografie und
Macht gehen soll. Der Fokus dieser Performances liegt
auf dem Körper und seinen medialen Inszenierungen. Als
ab Mitte der 1960er-Jahre Pornografie legalisiert wird, in
Dänemark war es 1967, in Deutschland erst 1975, wirkte
das wie ein großes Versprechen auf erotische Freiheit und
Geschlechtergleichheit weit in die Gesellschaft hinein.
Fünfzig Jahre später hat Pornografie unseren Alltag weiträumig
unterwandert. Ob in der Kunst, der Werbung oder
bei Folter und kriegerischen Kampfhandlungen – überall
wird die affektive Macht der Pornografie eingesetzt. Die
Medien konfrontieren uns mit Bildern von Körpern in intimen
Situationen, sie laufen über die Bildschirme der
Smartphones und es ist fast unmöglich, sich dem zu entziehen.
Genau hier setzt Mette Ingvartsen an.
»Ich versuche zu verstehen, welches Verhältnis wir heute
zur Sexualität haben – in einer Zeit, in der Lust und Begehren
durch kommerzielle Ökonomien kooptiert werden und
die Grenzen zwischen privatem und öffentlichem Raum
verschwommener sind als je zuvor.« In den ersten beiden
Stücken der Serie 69 positions (2014) und den 7 Pleasures
(2015) geht es um die Geschichte der Sexualität und wie
Nacktheit langsam die Körperbilder im Tanztheater und in
der Performancekunst verändert. In ihrer Soloperformance
21 pornographies (2017) beschäftigt sie sich dann explizit
mit der Allgegenwart pornografischer Bilder. Wie eine
Filmregisseurin entwickelt sie ein Drehbuch, in dem jedes
Bild eine andere Spielart pornografischer Gewalt inszeniert.
Der Film wird nie realisiert, er existiert nur in den
Köpfen der Zuschauer, wo er Gestalt annimmt, sobald
Mette Ingvartsen die Bühne betritt. Sie legt ihre Kleider
ab, erst die Bluse, dann die Hose, und beschreibt nackt,
Wort für Wort Exzesse der Erniedrigung, Perversion und
Manipulation. Die Genauigkeit und die Langsamkeit, mit
der sie das tut, sind quälend. »Ich glaube, die dunkle Stimmung
der Aufführung entspricht der Zeit, in der wir uns
176