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Festivalkatalog der Ruhrtriennale 2021-V3

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durch den Wald, der sich vom historischen Zentrum Salzburgs

hochzieht bis zur Kuppe des Kapuzinerbergs. Mit

ihren Schritten lösen sie Signale aus, die in den Bäumen

und im Unterholz verborgene Scheinwerfer aufblenden

lassen. Ein feines Gespinst aus Strahlenkränzen setzt ein

magisches Naturspektakel in Gang. Der Wald leuchtet

auf und verdunkelt sich wieder. Die Grenze zwischen

natürlicher und modellierter Natur verwischt, während

der Mensch eine veränderte Rolle einnimmt. Schritt für

Schritt erschafft er eine alternative Form von Landschaft.

Für diese Einwanderung des Künstlichen müssen erst

noch Namen und Begriffe gefunden werden.

2011 ist ein Schwellenjahr. Es ist das Jahr, in dem ein Tsunami

die Nuklearkatastrophe von Fukushima auslöst, deren

Wirkung die ganze Welt erfasst. Schockartig führen

uns die Bilder, die uns aus Tohoku, dem Nordosten Japans,

erreichen, vor Augen, wie verletzbar unser Planet, wie

irritierbar sein Gleichgewicht und wie hoch die Verantwortung

ist, die der Mensch für diese globale Kata strophe

trägt. 2011 ist das Jahr, mit dem die Ankunft des menschengemachten

Zeitalters zu einer unleugbaren Realität

wird. Der Begriff des Anthropozäns wurde schon um die

Jahrtausendwende von dem Atmosphärenforscher Paul

Crutzen in die Diskussion geworfen, als er einen Namen

improvisierte für den wachsenden Einfluss menschlichen

Handelns auf biologische, chemische und meteorologische

Prozesse. Der Begriff sollte noch eine ganze Weile

ein rätselhaftes Abstraktum bleiben und in Wissenschaftskreisen

kursieren, bevor er über philosophische Diskurse

und die Protestkulturen der Klimaaktivisten im Alltag von

Politik und Kunst ankommt. Und mit einem Mal wird klar,

was er eigentlich bedeutet: Unsere Vorstellung von der

Natur ist überholt. Der Mensch formt die Natur, und die

Folgen seines Handelns sind irreversibel. Bildhafter und

poetischer hat es Peter Sloterdijk formuliert: Die Atmosphäre

hat ein Gedächtnis.

Heute, zehn Jahre später, begegnen wir längst auch auf der

Bühne diesen veränderten Kräfteverhältnissen. Bis vor

wenigen Jahren gingen Tanz und Theater von einem Weltgefühl

aus, das bewusst den Menschen, seine Stimme,

seinen Körper, in die Mitte der Welt rückt. Was bedeutet

es, wenn nicht mehr der Mensch im Zentrum der Aufmerksamkeit

steht? Wenn materielle Formationen, ein künstliches

Subjekt, ein Gerät, eine Maske oder ein digitaler

Tanzpartner an seine Seite treten und die Verhältnisse

zum Tanzen bringen. The Artificial Nature Project (2012)

ist im Echoraum dieser Ereignisse entstanden. Auf Mette

Ingvartsen und die künstlerische Richtung, die ihr Werk

nehmen wird, wirkt die Stimmung dieses Katastrophenjahres

wie ein Vorzeichen der kommenden Stunde. Allerdings

belässt sie es nicht bei theoretischen Erkenntnissen,

ihre Sache ist die Theatralisierung naturwissenschaft licher

Fragestellungen. Dazu entwickelt sie Ausdrucksformen,

die sich mit ihren früheren Arbeiten amalgamieren und

den Übergang in diese veränderte Bewusstseinssphäre

sehr konkret, sehr plastisch werden lassen. Es gehe ihr,

sagt sie, um eine Form der Symbiose: »What we do

to things, things also do to us.« Das Publikum von

The Artificial Nature Project sieht sich einem künstlichen

Landschaftsbild gegenüber. Tänzer:innen bewegen mit

Laubbläsern Schwärme aus flirrenden Silberstreifen. Ist es

Laub, Sand oder Konfetti, was da fliegt? Ein beschleunigter

Teilchenwirbel wechselt von einem Zustand in den

nächsten, von Sphäre in Materie, von Fülle in Leere, von

passiver Starre in Dynamik, von flirrender Helligkeit in

Dunkelheit, um schließlich in eine meditative Stille überzugehen.

Eine Art Ballet Mécanique, dessen sinnliche

Schönheit zur Maske eines neuen Schreckens wird.

Mette Ingvartsen hat sich und ihre Kompanie als eine

der ersten an einer tieferen Reflexion über Ökologie und

das Zusammenspiel menschlicher und nichtmenschlicher

Subjekte ausgerichtet. Was bedeutet ein Mindset, das sich

einem respektvollen Umgang mit Natur und Ressourcen

verpflichtet, für die choreografische Praxis?

Während sich viele Künstler:innen und Kurator:innen den

neuen Parallelkörpern wie Avataren, Androiden und digitalen

Doppelgängern zuwenden, setzt Mette Ingvartsen

zu einer unerwarteten Gegenbewegung an. Ihre künstlerische

Antwort auf die posthumanen Dimensionen ist

zunächst offensiv körperlich. 2014 kündigt sie mit den

Red Pieces eine neue Werkgruppe an, in der es um die

Auseinandersetzung mit Sexualität, Pornografie und

Macht gehen soll. Der Fokus dieser Performances liegt

auf dem Körper und seinen medialen Inszenierungen. Als

ab Mitte der 1960er-Jahre Pornografie legalisiert wird, in

Dänemark war es 1967, in Deutschland erst 1975, wirkte

das wie ein großes Versprechen auf erotische Freiheit und

Geschlechtergleichheit weit in die Gesellschaft hinein.

Fünfzig Jahre später hat Pornografie unseren Alltag weiträumig

unterwandert. Ob in der Kunst, der Werbung oder

bei Folter und kriegerischen Kampfhandlungen – überall

wird die affektive Macht der Pornografie eingesetzt. Die

Medien konfrontieren uns mit Bildern von Körpern in intimen

Situationen, sie laufen über die Bildschirme der

Smartphones und es ist fast unmöglich, sich dem zu entziehen.

Genau hier setzt Mette Ingvartsen an.

»Ich versuche zu verstehen, welches Verhältnis wir heute

zur Sexualität haben – in einer Zeit, in der Lust und Begehren

durch kommerzielle Ökonomien kooptiert werden und

die Grenzen zwischen privatem und öffentlichem Raum

verschwommener sind als je zuvor.« In den ersten beiden

Stücken der Serie 69 positions (2014) und den 7 Pleasures

(2015) geht es um die Geschichte der Sexualität und wie

Nacktheit langsam die Körperbilder im Tanztheater und in

der Performancekunst verändert. In ihrer Soloperformance

21 pornographies (2017) beschäftigt sie sich dann explizit

mit der Allgegenwart pornografischer Bilder. Wie eine

Filmregisseurin entwickelt sie ein Drehbuch, in dem jedes

Bild eine andere Spielart pornografischer Gewalt inszeniert.

Der Film wird nie realisiert, er existiert nur in den

Köpfen der Zuschauer, wo er Gestalt annimmt, sobald

Mette Ingvartsen die Bühne betritt. Sie legt ihre Kleider

ab, erst die Bluse, dann die Hose, und beschreibt nackt,

Wort für Wort Exzesse der Erniedrigung, Perversion und

Manipulation. Die Genauigkeit und die Langsamkeit, mit

der sie das tut, sind quälend. »Ich glaube, die dunkle Stimmung

der Aufführung entspricht der Zeit, in der wir uns

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