Festivalkatalog der Ruhrtriennale 2021-V3
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Der Titel Ihrer Performance CASCADE bezieht sich auf
eine Kettenreaktion, eine Art Dominoeffekt. Haben Sie
die Bewegungen nach diesem Konzept strukturiert?
CASCADE dreht sich um Entropie, um fallende Gegenstände,
Körper, die stürzen, wieder aufstehen und neu
anfangen … Wir haben uns mit einer Reihe von Konzepten
im Zusammenhang mit Fallen und Wiederherstellen
beschäftigt: Hinfallen, Aufstehen, Schwerkraft
erleben, das Gegenteil von Schwerkraft spüren … Ein
weiteres Prinzip, mit dem wir versucht haben, den Ablauf
des Dominoeffekts zu verändern oder zu unterbrechen,
ist das Zurücksetzen: Wie können wir die
Maschine anhalten und neu starten?
Die Gruppe ist sehr vielfältig, die Leute kommen vom
Tanz und vom Theater, haben sehr unterschiedliche,
verschieden alte Körper mit allen möglichen Energieleveln.
Es gibt sieben Tänzer:innen und zwei Trommler:innen,
die in einer merkwürdigen Gemeinschaft vereint
sind, die sich über die Bewegung bildet. Deswegen
bestand die Arbeit zum Teil darin, sich aufeinander
einzustellen und Synchronisierung zu durchbrechen.
Diese Arbeit am Rhythmus verlangt enorme Intensität,
die Körper müssen einem hohen Tempo folgen. Unter
anderem haben wir mit Spielen ohne feste Regeln gearbeitet.
Wir wollten eine Dynamik schaffen, die uns
zu einer neuen Art von Interaktion in Echtzeit bringen
würde und mit der wir das System zerstören könnten,
um ein neues aufzubauen. Da geht es auch darum, wie
sich Körper in Gruppen verhalten und sich in einem
Raum nach Regeln bewegen, die nie festgeschrieben
werden. Das Ziel dabei ist letztendlich, ein Ökosystem,
eine Gruppe zu bilden, die versucht, neue Regeln für
das Zusammenleben aufzustellen. Was würde das bedeuten,
die Welt neu zu erschaffen? Was fangen wir
an, wenn nichts mehr übrig ist, wie bewegen wir uns,
wie verhalten wir uns in der Leere?
In einem bestimmten Moment gibt es in der Performance
eine Erkenntnis, die die Tänzer:innen in einem
sicheren Stadium zusammenbringt, die diese Intensität
verwandelt und sie zu etwas anderem macht als
einer bloß mechanischen Tatsache. Ich könnte das
einen Paradigmenwechsel nennen, eine Überhöhung
rationaler Leitwerte. Ich hätte gern, dass die Zuschauer:innen
diese Umkehr bemerken, dass sie den Maßstab
von allem in Frage stellen – drüber und drunter,
groß und klein, langsam und schnell …
Bei CELESTIAL SORROW, Ihrer letzten Performance, haben
Sie mit dem indonesischen Künstler Jompet Kuswidananto
zusammengearbeitet. CASCADE entsteht mit dem Bühnenbildner
und Regisseur Philippe Quesne. Wie hat der Raum
die Dynamik der Körper beeinflusst?
Philippe Quesne hat einen Raum mit einem ziemlich
starken Rahmen entworfen. Er ist von der Zeit unabhängig
und kennt keine Grenzen … In diesem Raum
sind die Körper aufgehoben, er fungiert zugleich als Illusion
und als grenzenloser Horizont, er verfügt über eine
Art Bewusstsein, eine Seele, welche die Körper, die sich
darin bewegen, beeinflusst. Das ganze Stück stellt das
Bemühen dar, ein Gleichgewicht zu finden zwischen
einem Impuls, einer Sehnsucht, Grenzen zu überschreiten,
und dem Versuch, loszulassen. Die Gruppe versucht,
eine Handlung darzustellen, die Bedeutung hat,
und gleichzeitig schleicht sich die Entropie, das innere
Zusammenfallen in die Bewegungen. Mich interessiert
dieses Aufeinanderprallen von zwei Dynamiken. Dank
des Bühnenbilds können wir unsere Voreingenommenheit
gegenüber innerem und äußerem Raum, Entropie
und Loslassen, Unbeweglichkeit und grenzenloser Bewegung
überdenken und über sie hinauswachsen.
ICH HÄTTE GERN, DASS
DIE ZUSCHAUER:INNEN
DEN MASSSTAB
VON ALLEM IN FRAGE
STELLEN.
Philippe hat einen Humor, eine subtile Ironie in die
Performance gebracht. Die Beweglichkeit der Körper
wird von ihrer Umgebung eingeschränkt, ihre Energie
zum Teil absorbiert. Damit stellt sich die Frage nach
Grenzen: Wo liegen die physischen und energetischen
Grenzen, wie werden diese Regeln festgelegt, wie
finden wir zu einer gewissen Autonomie und Freiheit?
Diese Freiheit kann nicht von einem einzelnen Körper
kommen, das hat mit der Gruppe zu tun, der Verbindung
zwischen ihren Mitgliedern, ihrer Fähigkeit, sich
gemeinsam zu entwickeln.
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