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Festivalkatalog der Ruhrtriennale 2021-V3

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Für mich ist es gerade umgekehrt. Mit Raben habe ich

nichts am Hut. Sie sind mir auf eine ganz besondere Art

schnurzpiepegal. Auf einen ganz bestimmten Raben hingegen

kann ich nicht verzichten. Das soll hier der dritte sein.

Er lebte auf einem anderen Dach, in einer anderen Stadt,

in einer anderen Zeit, in meiner Kindheit, hoch über dem

Fluss, zuoberst über einer Gasse in der Altstadt, wo ich

mit meiner Mutter lebte und wo der Vater noch, bevor

er endgültig verschwand, bisweilen auftauchte. Man betrat

unsere Wohnung und stand gleich in der Küche, ging

weiter durch diese Küche, und da war das Wohnzimmer,

und dahinter noch ein gefangenes Zimmer, das ich selbst

mit roten und mit blauen Indianern bewohnte. Da gab es

ein Fenster, eine Luke, und dort erschien jetzt Jakob, ein

schwarzes, geflügeltes Himmelswesen. Jakob äugte nach

links, nach rechts, präsentierte sich in der schwarzen

Schönheit und im Glanze seiner Federpracht, bevor er sich

die Käserinde schnappte, die ich eben aufs Fensterbrett

gelegt hatte. Dann stieß er sich wieder ab und tauchte in

die Luft, zog Kreise zwischen den Schornsteinen und den

Zinnen einer kleinen Stadt, der vorläufigen Heimat eines

kleinen Jungen.

Ich kann mich nicht erinnern, Jakob jemals einen Raben

genannt zu haben, Rabe, so bezeichne ich ihn, um einem

Erwachsenen das Wesen zu erklären, der nicht verstehen

kann, wer dieser Jakob war. So geht es mir bis heute.

Das Kind gibt es nicht mehr, und auch Jakob ist verschwunden,

aber es gibt noch den Gedanken an Jakob,

und wann immer dieser Mann, der ich nun geworden bin,

einen Raben sieht, so denkt er an diesen Jakob, und wann

immer dieser Mann einen schwarz gefiederten Kerl sieht,

diese verschmitzten, aufmerksamen und tüchtigen Kerle,

dann erinnert er sich an seinen Freund aus Kindheitstagen.

Man wird mir dies als Überzogenheit ankreiden, trotzdem

muss ich darauf bestehen: Ohne Jakob hätte ich meine

Kindheit nicht überlebt. Jedenfalls nicht diesen bestimmten

Teil, was ja für alle folgenden Teile dasselbe bedeutet.

Nein, die Existenz unter diesen fürchterlichen Dächern

wäre für mich tödlich gewesen.

Jakob hat mir eine Richtung gezeigt, jene in den Himmel

nämlich, eine Orientierung, die mir bis heute geblieben ist

und die mir jeden Tag die Augen und die Seele heilt, wenn

vom Lärm und Schmutz die Niederungen undurchdringlich

werden, wenn Staub aufwirbelt und die Luft trübt,

durch die Emsigkeit, durch die Geschäftigkeit, durch

den Biedersinn, der oft genug einem Raben den Garaus

machen will, weil er den lieben Frieden und den gesunden

Schlaf und die süße Sonntagsruhe stört. Ein gewisses

Leben, oder, besser gesagt, eine gewisse Lebensweise,

lässt sich nicht mit der Gegenwart von Raben in Übereinstimmung

bringen.

Von Jakob habe ich gelernt, dass die Rinde reicht und man

auf den Käse verzichten kann, wenn man den Himmel

besitzt.

Wenn der Ziegel den Malermeister erschlagen hätte, dann

wären nicht die Raben, die drüben im Wald der Irrenanstalt

ihre Horste bewohnen, schuldig an seinem Tod. Es

wäre ein bestimmter, unmittelbarer, ein gewisser Rabe.

Dieser Gedanke wirkt wie Frevel. Es wären dann als Konsequenz

nicht mehr Rehe, die in den Wäldern totgefahren

werden, jedes einzelne wäre ein Unfallopfer. Das dürfen

wir nicht denken, weil damit die Linie verschwände, hinter

der wir unseren Platz behaupten.

Wenn mich eine Zecke beißt und ich sie aus meinem

Fleisch drehe, dann hege ich keine Ranküne gegen sie.

Ich nehme Frühsommerenzephalitis oder Borreliose nicht

persönlich, weil auch hier die nämliche Linie verschwände,

mit der wir menschlich von tierisch trennen.

Einen großen Unfug treiben manche mit diesen Adjektiven.

Sie bedeuten einmal dies, einmal das andere und beschreiben

also nichts. Sie behaupten eine Kategorie, wo

nur Chaos ist. Wer findet das Merkmal des Menschen?

Wer kennt die Eigenheit der Tiere? Wie könnte ich Jakob

ausschließen, von dem ich so viel über meine Menschlichkeit

gelernt habe?

NUR WESEN,

DIE UNSERE SPRACHE

SPRECHEN, KÖNNEN

TEIL UNSERER

GESCHICHTE WERDEN –

EINERLEI, OB

WIR SIE UMBRINGEN

ODER NICHT.

Sinngemäß oder gleich im Gegenteil, das eine Mal zum

Lob, zur Eitelkeit, das andere Mal zur Scham, zur Schande

und so sehr die Wissenschaft dienlich und eine Gaudi ist

und wohl fantastische Wirkungen zeigt, so sehr soll man

sich hüten, ihr das Urteil über die Wirklichkeit zu überlassen.

Die Biologie enthält wenige Hinweise darauf, wie

man Ehestreit vermeidet, und man darf doch, falls dieser

Einwand kommen sollte, behaupten, dass jede Paarbeziehung

so weit biologisch ist, als dass sie nicht ausschließlich

bei Menschen vorkommt.

Das Leben und das Zusammenleben: das sind zwei verschiedene

Disziplinen.

Was können wir von einem Raben lernen? Gewiss einiges

mehr als von den Raben als Gattung oder Art. Ich müsste

dann nämlich jeden Menschen mit jedem Raben vergleichen

– wer sollte dazu im Stande sein?

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