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Festivalkatalog der Ruhrtriennale 2021-V3

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Im Januar 2020 machte ich einen Kurztrip nach Leticia,

der Hauptstadt des kolumbianischen Amazonas. Dort besuchte

ich Gori Nuekeda, einen indigenen Mann, der vor

einigen Jahren mit seiner Familie in diese Region ziehen

musste. Wir unterhielten uns die ganze Nacht in der Maloca

am Feuer. Ich wollte wissen, was die Indigenen denken

über die Haltung anderer Gruppen aus dem gleichen Gebiet,

die sich komplett isolieren und Kontakt vermeiden.

Es liegt ein wichtiges Paradoxon in dieser Entscheidung,

da die indigenen Organisationen politisch für ihre Sichtbarkeit,

ihre Forderungen und die Verteidigung ihrer Territorien

gekämpft haben.

SIE SIND NICHT

UNKONTAKTIERT,

FÜR UNS SIND

SIE KONTAKTIERT.

SIE STEHEN

IN VERBINDUNG

MIT UNS.

Darauf antwortet Gori: »Alles dreht sich darum, wer wir

sind. Der Begriff ’unkontaktiert’ kann beleidigend sein,

weil er eine implizite Macht der Beherrschung enthält.

Wir wurden der Religion ausgeliefert durch das Gesetz 89

von 1890, das festlegte, wie Wilde, die auf ein zivilisiertes

Leben reduziert wurden, regiert werden sollten.«

In seinem ersten Kapitel, das 1996 für verfassungswidrig

erklärt wurde, bestimmte dieses Gesetz:

Die allgemeine Gesetzgebung der Republik gilt nicht

für die Wilden, die durch die Missionen zum zivilisierten

Leben gebracht werden. Folglich wird die Regierung im

Einvernehmen mit der kirchlichen Autorität die Art und

Weise bestimmen, in welcher diese entstehenden Gesellschaften

regiert werden sollen.

»Wir wurden wie Wilde und sinnlose Menschen behandelt.

Und vielleicht wird mit der Bezeichnung ’unkontaktiert’

diese Idee weiterhin aufrechterhalten. Wir sind Menschen

mit eigenen Anliegen und wir können über das Schicksal

unserer Völker entscheiden. Wir haben das Recht auf

Selbstbestimmung, aber es gibt keine wirkliche Anerkennung

dieses Rechts. Was die sogenannten Unkontaktierten

betrifft, so bin ich besorgt, dass wir nicht wissen,

ob sie leiden oder nicht, ob es ihnen gut geht oder nicht.

Auch wenn es heißt, dass sie unkontaktiert sind, bedeutet

das nicht, dass sie sich nicht auch in einer verschmutzten

Welt befinden, hier im Amazonasgebiet.

Die indigenen Völker in selbstgewählter Isolation bauen

Zäune zu ihrem Schutz, aber innerhalb des Zaunes gibt

es bereits Verschmutzung, es gibt Krankheiten wie Malaria,

die einen Teil unserer Völker ausgelöscht haben. Wir

wissen nicht, welches Leid sie ertragen müssen. Das Übel

ist schon geschehen. Können sie auch vor der Krankheit

fliehen? Ich sage: Flieht! Die Krankheit wird sie nicht mehr

loslassen. Sie sind Nomaden innerhalb einer Zone, die das

Territorium darstellt, und wir nehmen geistig Kontakt mit

ihnen auf, weil wir ihre Sorge spüren. Durch unsere Konzentration

treten wir geistig mit ihnen in Kontakt. Durch

Konzentration können wir ihnen Ja sagen, aber auch Nein.

Wir sagen ihnen, dass sie kommen sollen, aber wir sagen

ihnen auch, dass sie nicht kommen sollen. Wir sagen

ihnen, dass sie dort bleiben sollen, denn wenn sie hierher

kommen, werden sie genauso leiden wie wir. Auch durch

die Tänze gibt es eine sehr starke Energie und durch die

Pflanzen, durch die Vögel und durch die Tiere wird diese

Verbindung übertragen. Wir würden die Verbindung verlieren,

wenn wir einige dieser Pflanzen, dieser Vögel,

dieser Tänze verlieren. Die direkten Kontakte zu ihnen

sind da. Also alles, diese Konzentrationen verbinden uns

mit dieser Welt. Die Schlussfolgerung ist, dass es für uns

einen direkten Kontakt mit ihnen gibt. Sie sind nicht unkontaktiert,

für uns sind sie kontaktiert. Sie stehen in

Verbindung mit uns. Das ist die Kraft. Durch die Tänze

erfahren wir über sie und sie erkennen auch, wie es uns

geht, wir bieten uns gegenseitig Schutz.«

Ich war noch nie im Amazonas, ich dachte, dass ich bei

meiner Ankunft vom Dschungel umarmt werden würde.

Stattdessen wurde ich von Goris Worten in Leticia umarmt

und ich kehrte zurück.

HEIDI ABDERHALDEN

Mai 2021

Foto: Ximena Vargas

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