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Festivalkatalog der Ruhrtriennale 2021-V3

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Gestern Abend begegnete ich in unserer Straße einem

Marder. Er und seine Geschwister sind unbeliebt, weil

sie sich in die Motoren schleichen und die Kabel fressen.

Gegen Marderschäden kann man sich versichern, und

oben an der Tankstelle verkaufen sie den Mardertod. Ich

weiß nicht, wie er wirkt, aber das Plakat verspricht, er

funktioniere ohne Gift. Marder stinken, soweit ich weiß.

Und ich habe von der Menge Dreck gehört, die sie hinterlassen

sollen. Aber das sind nur Gerüchte. Persönlich bin

ich keinem von ihnen näher als zwanzig Meter gekommen.

Auch ich scheine bei den Geschwistern Marder nicht

weiter beliebt zu sein.

Mit einem Siebenschläfer die Bekanntschaft zu machen,

hatte ich hingegen das Vergnügen. Diesen mausigen Gesellen

fand ich eines Morgens in unserem Haus in den Bergen,

im Küchenkasten, zwischen den Nüssen. Da saß er

mit dicken Backen und glänzenden Augen. Bewegte sich

nicht. Schaute mich an. Fraß weiter. Ließ sich nicht stören.

Später las ich über seine Lebensgewohnheiten. Der

Siebenschläfer schläft so gut wie immer. Neun von zwölf

Monaten ist er nicht wach. Und wer nicht wach ist, kann

nicht fressen. Weil die Zeit knapp ist, hält er sich an Nahrung

mit hoher Energiedichte. Das macht ihn rasch dick,

und das macht ihn wohlschmeckend. Ihr Fett sei aromatisch,

so habe ich in einem alten Kochbuch gelesen, wer

das wenige Fleisch darin gare, trage von der Speise keinen

Schaden davon. Seit den Römerzeiten hält man Siebenschläfer

in einem Tontopf, einem sogenannten Glissarium,

und füttert sie bis zur Speisereife.

Ich habe den grauen Gnom nicht verzehrt, sondern hinaus

in die Wiese vor dem Haus getragen, in einer Pappschachtel,

in die ich den Kulinariker nach einigen Versuchen bugsieren

konnte.

So überließ ich ihn mit einigen Nüssen zwischen Klee und

Löwenzahn seinem Schicksal.

Am nächsten Morgen saß er im selben Küchenkasten an

derselben Stelle und nahm sich gerade die Mandeln vor.

So trug ich ihn ein zweites Mal aus dem Haus, diesmal

bis weit über den Bach, und seither verblieb von diesem

Fresskumpan keine Spur mehr aufzufinden.

Dieser Fellball verstand mich ausgezeichnet. Er kannte

meine Gewohnheiten. Er wusste, wo bei mir die Nüsse

lagen. Was unterschied uns? Die Sprache? Sprache als

Grund, einen hungrigen Narkoleptiker vor die Tür zu setzen?

Sprache als Unterschied?

Aber ich wollte von meinen drei Raben berichten.

Der erste Rabe setzte sich neulich auf das Dach des Nachbarhauses

und machte sich mit dem Schnabel am Moos

zu schaffen. Dabei lockerte er einen Ziegel, bis dieser sich

löste und ins Rutschen kam, die Regenrinne übersprang

und vier Stockwerke tief in den Hinterhof fiel. Er zerbarst

im Durchgang, den nur einige Momente vorher ein Malermeister

passiert hatte, um zu seinen Fensterläden zurückzukehren,

die er am Morgen ausgehängt und auf Böcke

gelegt hatte, um sie frisch zu streichen. Und wäre er nur

ein paar Sekunden früher aus der Pause gekommen, der

vermaledeite Ziegel hätte ihn erschlagen.

Er war in seine Arbeit versunken und begriff nicht, welcher

Gefahr er gerade entronnen war. Der Rabe jedoch

erschrak vom Lärm und flog davon.

Ich wurde Zeuge dieses Vorfalls. Einen Richter, der

dieses Tier verurteilt hätte, hätte niemand finden können,

nicht die Witwe und nicht die Kinder dieses armen Malermeisters.

Raben sind nicht schuldfähig. Sie verstehen den

Dreisatz aus Konvention, Konformismus und Sanktion

nicht, der die menschliche Gesellschaft bestimmt und

formt. Ein Vogel versteht die Regel nicht, er wüsste nicht,

wie er sich daran halten sollte, und eine Sanktion wäre für

ihn nicht mit der Tat in Verbindung zu bringen. Der Rabe

bleibt straffrei, weil er ohne Absicht handelt. Er will keinen

Malermeister töten, aus keinen uns bekannten Gründen,

nicht aus Eifersucht, nicht aus Rache, selbst wenn unser

Malermeister auf seinem Grundstück eine Platane hätte

fällen lassen, auf dem seit Generationen die Familie dieses

Raben ihre Nester gebaut und den Nachwuchs aufgezogen

hatte.

Nachtragend seien Tiere, so erzählen wir uns, nicht, ihre

Aggression betreffe keinen anderen Wert als die Sicherung

des Überlebens. Einem nichtmenschlichen Organismus

eine Empfindung wie Genugtuung zuzuschreiben,

erscheint der Vernunft absurd, jedenfalls der erwachsenen

Vernunft. Ein Kind besitzt zu Tieren und zu Pflanzen und

zum Regen und zum Wind ein anderes Verhältnis.

Unter adulten Menschen haben Raben einen schlechten

Ruf, sie gelten als schmutzig, sie machen Lärm, und

tatsächlich finden sich selten Fürsprecher, wenn Raben

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