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Festivalkatalog der Ruhrtriennale 2021-V3

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Wenn wir unsere Fiktionen in der Wirklichkeit spielen,

dann wird die Realität uns beeinflussen. Wir gehen also

raus aus der Black Box. Das Mittel, den Text zu projizieren,

das Thea tralische also episch zu machen, als ob wir alle

zusammen einen Roman lesen, habe ich dann auch in viel

theatralischeren Arbeiten weiterentwickelt.

El pasado es un animal grotesco / Die Vergangenheit ist

ein groteskes Tier heißt eine spätere Arbeit, in der vier

junge Menschen in einer sich beständig drehenden Bühne

mit digitalen Jahreszahlen in 65 Lebensfragmenten durch

zehn Jahre Zeitgeschichte der Nullerjahre sausen. Alle

dieser Generationen zwischen 25 und 35 müssen mit

jähen Veränderungen ihrer Lebensentwürfe klarkommen.

Es sind kleine persönliche Episoden im Rahmen des

größeren Narrativs der argentinischen Wirtschaftskrisen.

»Ich interessiere mich für das Vergehen von Zeit und wie

ich das Theater als Medium benutzen kann, sodass das

Publikum die Erfahrung des Zeitvergehens macht. Die

Differenz zwischen Erwartung an uns im Leben und unserer

wahren Existenz ist für mich eine Quelle der Fiktion.

Und ich habe eine Obsession, mich mit der Identität meiner

Generation zu beschäftigen, mit der komplexen Beziehung

zu unseren Eltern. Unsere Eltern waren Linke, die gegen

die Militärdiktatur gekämpft haben. Wir sind im Schatten

ihres Heldentums aufgewachsen. Wir kämpfen nicht.

Während der 90er und schon früher waren wir konstant

mit unserem ökonomischen Überleben beschäftigt. Nach

der Krise haben wir angefangen, über Politik nachzudenken.

Näher sind wir dem Revolutionären nicht gekommen.«

Biografisches und Autobiografisches seiner Generation

steuern viele Geschichten, die Mariano Pensotti auf der

Bühne nie linear erzählt, sondern montiert. Leben und

Kunst finden unter prekären Bedingungen statt. Das ist

die Ausgangslage und sie führt zu vielen sarkastischkomischen

Selbstverleugnungen, weil man sich einen

besseren Selbstentwurf nicht leisten kann.

Die Off-Szene von Buenos Aires ist wahrscheinlich eine

der kreativsten und vielgestaltigsten Theaterszenen der

Welt. Alle diese Künstler:innen arbeiten in gefährdeten

und zerbrechlichen Umständen. Sie probieren ihre Kreationen

über lange Zeiträume, weil sie sich und ihre Kunst

mit anderen Berufen oder Tätigkeiten finanzieren.

In Cuando vuelva a casa voy a ser otro / Wenn ich zurückkomme,

bin ich ein anderer (2015) ist die Bühne ein Laufband,

auf dem zunächst ein einsames Stativ mit einer

Kamera vorbeifährt vor dem Panorama aus Akropolis,

Schneebergen und Pyramiden. Es folgen in rasantem

Tempo angeschnittene Szenen mehrerer verflochtener

Erzählungen, die um zeitgenössische Identität kreisen und

um das Selbstbild seiner Generation, der Kinder der Widerstandskämpfer.

Der Vater des Protagonisten Emanuel

hat während der Diktatur Briefe und Fotos, die ihn hätten

kompromittieren können, in seinem Garten vergraben und

findet sie nach der Diktatur nicht wieder. Viele Jahre später

bringt ihm der neue Besitzer seines Hauses, der einen

Swimmingpool ausgehoben hat, seine Plastiksäcke. Bei

den Gegenständen befindet sich eine alte Musikkassette,

an die er sich nicht erinnert, mit der Aufnahme eines

Liedes, gesungen von jemandem der nicht er ist. Sein

Sohn, der Autor und Regisseur ist, probt das Remake seines

Stückes Der Fluss, das die Zeit der Diktatur und die revolutionäre

Rebellion thematisiert und vor Jahren sehr erfolgreich

war. Er erfährt, dass ein anderer unter seinem

Namen sein Stück inszeniert hat, und es auf Festivals in

Südamerika zeigt. Er beschließt, den Doppelgänger zu

finden. Um Geld zu verdienen, arbeitet er nebenbei für

Wahlkampagnen. Der Mann, der sein Stück gestohlen

hat, heißt Damian und ist ein Wahlkandidat, der verliert.

Damian glaubt, dass man nur eine überzeugende Identität

hat, wenn man eine andere nachspielt. Als der Doppelgänger

bei einem Theaterfestival in Paraguay feststellt,

dass der wirkliche Emanuel genauso ein Loser ist wie er

selber, verfällt er in eine Depression und taucht im Karneval

unter. Inzwischen hat eine junge Sängerin das Lied

von der Kassette im Radio gehört, weil Emanuel es für

Wahlwerbung verhökert hat. Sie erkennt die Stimme ihres

Vaters, der während der Diktatur ermordet wurde. Sie

macht mit dem Lied ein neues Programm für ihre Band

und hat zum ersten Mal Erfolg. Emanuel inszeniert sein

Stück und Damian schließt sich einer Transvestitenband

an, die die Beatles imitieren. All das wird, wie in El pasado

es un animal grotesco von nur vier Performer:innen und in

rasenden Szenen- und Rollenwechseln gespielt.

»Ein Teil dieser Geschichte ist tatsächlich meinem Vater

passiert. Er hat im Garten meines Großvaters die Dinge

vergraben, die ihn hätten belasten können. Er dachte, die

Diktatur würde nicht lange dauern. In meiner Kindheit

hörte ich ihn viel über die Objekte sprechen, die sich in

seiner Vorstellung veränderten, immer mehr wurden.«

Mariano Pensotti hat in Buenos Aires, in Spanien und

Italien Bildende Kunst und Film studiert. Dann begann er

Anfang 2000, seine speziellen Theaterstücke zu realisieren,

in kleinen Räumen, in Mietshäusern, auf Balkonen. In Argentinien

war in den Neunzigern und danach jene eigene

Form kleinformatiger Kammerspiele entstanden. Mariano

Pensotti brachte das Erzählen von mit Zeitgeschichte aufgeladenen

persönlichen Episoden mit unterschiedlichen

filmischen und visuellen Mitteln zusammen.

Nach der großen politischen und wirtschaftlichen Krise

2005 gründete er die Grupo Marea gemeinsam mit der

Ausstattungskünstlerin Mariana Tirantte, dem Musiker

Diego Vainer, dem Lichtdesigner Alejandro Le Roux und

der Produzentin Florencia Wasser. Die filmischen Mittel

im Umgang mit Zeit und das epische Erzählen mittels

Overvoice-Stimme durch eine:n Performer:in oder Schrift

wurde zu einem Markenzeichen seiner Dramaturgie.

Für Cineastas (2013) interviewte er 20 Filmemacher:innen

in Buenos Aires. Ihn interessierte, wie und ob das Leben

die Filme beeinflusst und ob Film oder Theater umgekehrt

die Realität beeinflussen können. In zwei übereinanderstehenden

Räumen werden acht Geschichten gleichzeitig

erzählt, die persönlichen Leben von vier Filmemacher:innen

und Teile aus den Filmen, an denen sie grade arbeiten,

miteinander verschnitten. Die unausgesprochene Frage

ist: Beeinflusst die Fiktion das Leben oder das Leben die

Fiktion und kann die Kunst eine Form des Widerstands sein?

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