Festivalkatalog der Ruhrtriennale 2021-V3
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
Die neue Arbeit Los Años von Mariano Pensotti hätte ihre
Premiere bei der Ruhrtriennale 2020 haben sollen.
Nach der Absage des Festivals hat der Künstler die Proben
um ein Jahr verschoben. Mariano Pensotti hat 2018 in
der Kraftzentrale das umfangreiche und inversive Projekt
Diamante mit argentinischen und deutschen Schauspieler:innen
entwickelt. Es erzählte von einer Privatstadt,
die einer Firma gehört und immer mehr zu einem dystopischen
Ort wird.
Mariano Pensotti gehört zu einer Generation, die in den
krisengeschüttelten Jahren das argentinische Theater erneuert
hat.
In sehr fragilen ökonomischen Situationen erfanden sie
Theater in privaten Wohnungen, Büroräumen und Bars.
Mariano Pensotti entwickelte eine spezielle episch-theatralische
und filmische Erzählweise. Er hat viele Jahre als
Drehbuchautor gearbeitet und ist ein erstaunlicher Erzähler.
In seinen Stücken verwebt er auf mehreren Ebenen meist
mehrere fragmentierte Geschichten miteinander, in denen
er sehr persönliche Situationen in einen zeitgeschichtlichen
Rahmen spannt. Er verwendet sehr unterschiedliche Mittel
und immer verschiebt er die aktuelle Handlung durch eine
rekonstruierende oder reflektierende Perspektive.
»Zurzeit drehen wir den gefakten Dokumentarfilm über
den kleinen Jungen in einem interessanten Stadtteil von
Buenos Aires. Wir haben einen tollen Jungen gefunden.
Der Film wird das Herzstück der Inszenierung sein. Denn
alle Gespräche und szenischen Situationen auf der Bühne
beziehen sich immer wieder auf diesen Film.«
In der neuen Arbeit von Mariano Pensotti wird man zwei
nebeneinanderliegende und parallel bespielte Räume
sehen. In dem einen Raum ist Gegenwart, in dem anderen
ist Zukunft, 30 Jahre später, 2051. Ein junger Architekt in
der Gegenwart, der in Buenos Aires Gebäude dokumentiert,
die Kopien berühmter europäischer Bauten sind,
lernt in einem Armutsviertel einen kleinen Jungen kennen,
der dort ohne Eltern lebt. Der Junge bittet ihn, sich bei
einer Schule als sein Vater auszugeben, damit er aufgenommen
wird und eine warme Mahlzeit am Tag bekommen
kann. Der junge Mann und das Kind freunden sich
an. Der Architekt beschließt, einen Film über das Viertel
und das Leben des Jungen zu machen. Eines Tages verliert
er ihn aus den Augen. Sein Film ist ein so großer Erfolg,
dass er seinen Beruf als Architekt aufgibt und Dokumentarfilmer
wird. Im Raum der Zukunft sehen wir gleichzeitig
den Mann 30 Jahre später. Er ist nach langem Auslandsaufenthalt
nach Buenos Aires zurückgekehrt. Er hatte in
seiner Karriere nie wieder so großen Erfolg wie mit seinem
ersten Film. Nun möchte er den inzwischen erwachsenen
Jungen wiederfinden, angeblich, weil er wissen will, was
aus ihm geworden ist, in Wahrheit, weil er hofft, mit einem
zweiten Film an seinen früheren Erfolg anzuknüpfen.
Der damalige Dokumentarfilm seiner Jugend war auch ein
trauriger Lebenseinschnitt, denn während er ihn drehte,
verließ ihn seine Frau mit der gemeinsamen kleinen Tochter.
Er hat den Verlust im Rausch des Erfindens und des Erfolgs
nicht realisiert. 30 Jahre später versucht er eine neue
Beziehung zu seiner Tochter herzustellen. Die Tochter wird
immer stärker die Haupterzählerin von Los Años sein.
Den beiden Lebenszeiten entsprechen die Zeiten einer
Gesellschaft.
Der Enthusiasmus einer gesellschaftlichen Utopie wandelt
sich unerfüllt in Zynismus. In Mariano Pensottis Argentinien
der Zukunft will eine mehrheitlich gewählte rechte
Partei Argentinien wieder zu einer spanischen Kolonie
machen. Es ist in dieser fiktiven konservativen Zukunft
modern, historisch 200 Jahre zurückzugehen.
Laut Mariano Pensotti keine ganz unwahrscheinliche
Prognose: »Das Konzept der Zukunft hat sich in meinem
Kopf während der Pandemie am stärksten verändert«,
sagt er. »Aber ich bin immer noch optimistisch«.
Das Phänomen Zeit war und ist ein zentraler Gegenstand,
eine Form und ein Inhalt, in allen Arbeiten von Mariano
Pensotti.
Vor mehr als 15 Jahren, 2006, zeigte das Kunstenfestivaldesarts
in Brüssel in den Vitrinen und auf den Balkonen
einer belebten Geschäftsstraße in der Brüsseler Innenstadt
Episoden aus dem Leben sehr unterschiedlicher
Menschen. Die Dialoge und die Gedanken der jeweiligen
Personen waren auf die Hauswände oder das Trottoir projiziert.
An einer Kreuzung lag ein Motorradfahrer, der unmittelbar
vorher bei einem Unfall ums Leben gekommen
war. Man las seine letzten Gedanken. Diese Arbeit, die
2005 in Buenos Aires entstand, war eine Art künstlerisches
Manifest. Man sah Episoden aus verschiedenen
Leben zu, die immer auch schon Vergangenheit waren.
»Das war etwas, das ich unbedingt machen wollte:
Kammerspiele für die Straße. In den Jahren 2001/02 war
alles, was auf der Straße passierte, viel interessanter als
das, was in den Theatern stattfand. Wir sagten uns:
205