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Festivalkatalog der Ruhrtriennale 2021-V3

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Die neue Arbeit Los Años von Mariano Pensotti hätte ihre

Premiere bei der Ruhrtriennale 2020 haben sollen.

Nach der Absage des Festivals hat der Künstler die Proben

um ein Jahr verschoben. Mariano Pensotti hat 2018 in

der Kraftzentrale das umfangreiche und inversive Projekt

Diamante mit argentinischen und deutschen Schauspieler:innen

entwickelt. Es erzählte von einer Privatstadt,

die einer Firma gehört und immer mehr zu einem dystopischen

Ort wird.

Mariano Pensotti gehört zu einer Generation, die in den

krisengeschüttelten Jahren das argentinische Theater erneuert

hat.

In sehr fragilen ökonomischen Situationen erfanden sie

Theater in privaten Wohnungen, Büroräumen und Bars.

Mariano Pensotti entwickelte eine spezielle episch-theatralische

und filmische Erzählweise. Er hat viele Jahre als

Drehbuchautor gearbeitet und ist ein erstaunlicher Erzähler.

In seinen Stücken verwebt er auf mehreren Ebenen meist

mehrere fragmentierte Geschichten miteinander, in denen

er sehr persönliche Situationen in einen zeitgeschichtlichen

Rahmen spannt. Er verwendet sehr unterschiedliche Mittel

und immer verschiebt er die aktuelle Handlung durch eine

rekonstruierende oder reflektierende Perspektive.

»Zurzeit drehen wir den gefakten Dokumentarfilm über

den kleinen Jungen in einem interessanten Stadtteil von

Buenos Aires. Wir haben einen tollen Jungen gefunden.

Der Film wird das Herzstück der Inszenierung sein. Denn

alle Gespräche und szenischen Situationen auf der Bühne

beziehen sich immer wieder auf diesen Film.«

In der neuen Arbeit von Mariano Pensotti wird man zwei

nebeneinanderliegende und parallel bespielte Räume

sehen. In dem einen Raum ist Gegenwart, in dem anderen

ist Zukunft, 30 Jahre später, 2051. Ein junger Architekt in

der Gegenwart, der in Buenos Aires Gebäude dokumentiert,

die Kopien berühmter europäischer Bauten sind,

lernt in einem Armutsviertel einen kleinen Jungen kennen,

der dort ohne Eltern lebt. Der Junge bittet ihn, sich bei

einer Schule als sein Vater auszugeben, damit er aufgenommen

wird und eine warme Mahlzeit am Tag bekommen

kann. Der junge Mann und das Kind freunden sich

an. Der Architekt beschließt, einen Film über das Viertel

und das Leben des Jungen zu machen. Eines Tages verliert

er ihn aus den Augen. Sein Film ist ein so großer Erfolg,

dass er seinen Beruf als Architekt aufgibt und Dokumentarfilmer

wird. Im Raum der Zukunft sehen wir gleichzeitig

den Mann 30 Jahre später. Er ist nach langem Auslandsaufenthalt

nach Buenos Aires zurückgekehrt. Er hatte in

seiner Karriere nie wieder so großen Erfolg wie mit seinem

ersten Film. Nun möchte er den inzwischen erwachsenen

Jungen wiederfinden, angeblich, weil er wissen will, was

aus ihm geworden ist, in Wahrheit, weil er hofft, mit einem

zweiten Film an seinen früheren Erfolg anzuknüpfen.

Der damalige Dokumentarfilm seiner Jugend war auch ein

trauriger Lebenseinschnitt, denn während er ihn drehte,

verließ ihn seine Frau mit der gemeinsamen kleinen Tochter.

Er hat den Verlust im Rausch des Erfindens und des Erfolgs

nicht realisiert. 30 Jahre später versucht er eine neue

Beziehung zu seiner Tochter herzustellen. Die Tochter wird

immer stärker die Haupterzählerin von Los Años sein.

Den beiden Lebenszeiten entsprechen die Zeiten einer

Gesellschaft.

Der Enthusiasmus einer gesellschaftlichen Utopie wandelt

sich unerfüllt in Zynismus. In Mariano Pensottis Argentinien

der Zukunft will eine mehrheitlich gewählte rechte

Partei Argentinien wieder zu einer spanischen Kolonie

machen. Es ist in dieser fiktiven konservativen Zukunft

modern, historisch 200 Jahre zurückzugehen.

Laut Mariano Pensotti keine ganz unwahrscheinliche

Prognose: »Das Konzept der Zukunft hat sich in meinem

Kopf während der Pandemie am stärksten verändert«,

sagt er. »Aber ich bin immer noch optimistisch«.

Das Phänomen Zeit war und ist ein zentraler Gegenstand,

eine Form und ein Inhalt, in allen Arbeiten von Mariano

Pensotti.

Vor mehr als 15 Jahren, 2006, zeigte das Kunstenfestivaldesarts

in Brüssel in den Vitrinen und auf den Balkonen

einer belebten Geschäftsstraße in der Brüsseler Innenstadt

Episoden aus dem Leben sehr unterschiedlicher

Menschen. Die Dialoge und die Gedanken der jeweiligen

Personen waren auf die Hauswände oder das Trottoir projiziert.

An einer Kreuzung lag ein Motorradfahrer, der unmittelbar

vorher bei einem Unfall ums Leben gekommen

war. Man las seine letzten Gedanken. Diese Arbeit, die

2005 in Buenos Aires entstand, war eine Art künstlerisches

Manifest. Man sah Episoden aus verschiedenen

Leben zu, die immer auch schon Vergangenheit waren.

»Das war etwas, das ich unbedingt machen wollte:

Kammerspiele für die Straße. In den Jahren 2001/02 war

alles, was auf der Straße passierte, viel interessanter als

das, was in den Theatern stattfand. Wir sagten uns:

205

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