Festivalkatalog der Ruhrtriennale 2021-V3
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physikalischen Möglichkeiten abspielte. Varèse wollte jeden
nur erdenklichen Klang synthetisch erzeugen können,
ihn stufenlos in Tonhöhe, Farbe, Dichte, Textur, Volumen
verändern können und damit in vollkommen ungekannte
Klangsphären vordringen. Le Corbusier war überzeugt, dass
Varèse der einzige Komponist war, der mit seiner Utopie
kompatibel war. Er beauftragte ihn, ein rein elektronisches
Gedicht – das Poème électronique – für seinen Pavillon zu
schaffen, das auch die Grenze zu anderen Medien nahtlos
passiert und Raum, Bild, Farbe und Poesie in noch nie gehörten
Klängen erfasst – und koste es die über 300 Lautsprecher,
die dafür im Pavillon installiert werden mussten.
Edgar Varèse
Le Corbusiers Vorstellung dieses Gebäudes ging über den
physischen Korpus hinaus: Ebenso integrale Komponenten
waren Klang, Bild, Poesie und Farbe. Sie alle sollten ineinander
aufgehen und der Philips-Pavillon ein Ort sein, an
dem sich die Grenzen zwischen allen Sinnen in der Wahrnehmung
auflösen. Iannis Xenakis war dazu der ideale
Partner, denn als Komponist und Architekt war es sein natürlicher
Modus, Raum als Musik und Musik als Raum zu
denken. Die äußere Bauform des Pavillons, die eher einer
riesigen abstrakten Skulptur als einem Gebäude glich,
leitete er direkt aus dem grafischen Prinzip seiner Partitur
des Orchesterwerks Metastaseis von 1955 ab. Hier hatte
er versucht, mit großen Orchesterglissandi mathematisch
genau berechnete Linien zu ziehen. An der Form, die diese
beschrieben, richtete er die Form des Pavillons aus.
Einen weiteren Partner brauchte Le Corbusier für die
Klanggestaltung im Inneren des Pavillons. Edgar Varèse
war nicht der berühmteste Komponist, den er für dieses
Prestigeprojekt hätte gewinnen können. Präsent war sein
Name zuletzt wegen Déserts, einer Komposition für Orchester
und Tonband, deren Uraufführung 1954 in Paris
als Skandalkonzert in die Geschichte einging. Für das
Skandalpotenzial interessierte sich Le Corbusier überhaupt
nicht. Ihn interessierte Varèses Forschung nach
neuen, synthetischen Klangerzeugungsmitteln, die bis ins
Jahr 1916 zurückdatiert. Seine Vision war dem technischen
Entwicklungsstand um Jahrzehnte voraus. Als er 1953
den damals revolutionären Ampex Recorder in die Finger
bekam, konnte er Déserts realisieren, sein erstes Werk mit
synthetischen und akustischen Klangerzeugungsmitteln –
ursprünglich sogar als Bild-Ton-Kunstwerk angelegt. Er
träumte von einer Musik, die vollständig unabhängig von
klassischen Instrumenten entsteht. Zwar boten diese
eine enorme Klangvielfalt, doch ließen sie keine Musik
imaginieren, die sich nicht innerhalb der Grenzen ihrer
Michael Finnissy
Dem britischen Komponisten Michael Finnissy genügt für
seine Idee des Ineinandergreifens von Bild- und Klangmedium
ein Klavier. Allerdings ist der Pianist fast sechs
Stunden lang beschäftigt, wenn er Finnissys gesamten
Zyklus The History of Photography in Sound spielt, woran
sich bislang nur Ian Pace gewagt hat.
Das Rätsel, das der Titel aufgibt, ist auch nach der sechsten
Stunde nicht endgültig gelöst. Die Verbindung von Bild
und Klang geht über die filmschnittartige Kompositionstechnik
hinaus, liegt an verschiedenen Stellen verankert,
sei es, dass Finnissy musikalisch Perspektiven herstellt,
die einen bestimmten Betrachterpunkt festlegen, sei es,
dass er bildhistorische Aspekte musikalisch aufgreift und
verarbeitet. Im Kapitel Eadweard Muybridge – Edvard
Munch etwa beschäftigt ihn, wie die zwei Künstler unterschiedlicher
visueller Medien mit der Begrenzung des
Bildes umgingen, wenn sie Bewegung zeigen wollten. Bei
Munch ist es die Bewegung, die die statische Haupt figur
im Bild umgibt und die sich in deren Ausdruck spiegelt.
Der um eine Generation ältere Eadweard Muybridge
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