09.05.2022 Aufrufe

Festivalkatalog der Ruhrtriennale 2021-V3

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

physikalischen Möglichkeiten abspielte. Varèse wollte jeden

nur erdenklichen Klang synthetisch erzeugen können,

ihn stufenlos in Tonhöhe, Farbe, Dichte, Textur, Volumen

verändern können und damit in vollkommen ungekannte

Klangsphären vordringen. Le Corbusier war überzeugt, dass

Varèse der einzige Komponist war, der mit seiner Utopie

kompatibel war. Er beauftragte ihn, ein rein elektronisches

Gedicht – das Poème électronique – für seinen Pavillon zu

schaffen, das auch die Grenze zu anderen Medien nahtlos

passiert und Raum, Bild, Farbe und Poesie in noch nie gehörten

Klängen erfasst – und koste es die über 300 Lautsprecher,

die dafür im Pavillon installiert werden mussten.

Edgar Varèse

Le Corbusiers Vorstellung dieses Gebäudes ging über den

physischen Korpus hinaus: Ebenso integrale Komponenten

waren Klang, Bild, Poesie und Farbe. Sie alle sollten ineinander

aufgehen und der Philips-Pavillon ein Ort sein, an

dem sich die Grenzen zwischen allen Sinnen in der Wahrnehmung

auflösen. Iannis Xenakis war dazu der ideale

Partner, denn als Komponist und Architekt war es sein natürlicher

Modus, Raum als Musik und Musik als Raum zu

denken. Die äußere Bauform des Pavillons, die eher einer

riesigen abstrakten Skulptur als einem Gebäude glich,

leitete er direkt aus dem grafischen Prinzip seiner Partitur

des Orchesterwerks Metastaseis von 1955 ab. Hier hatte

er versucht, mit großen Orchesterglissandi mathematisch

genau berechnete Linien zu ziehen. An der Form, die diese

beschrieben, richtete er die Form des Pavillons aus.

Einen weiteren Partner brauchte Le Corbusier für die

Klanggestaltung im Inneren des Pavillons. Edgar Varèse

war nicht der berühmteste Komponist, den er für dieses

Prestigeprojekt hätte gewinnen können. Präsent war sein

Name zuletzt wegen Déserts, einer Komposition für Orchester

und Tonband, deren Uraufführung 1954 in Paris

als Skandalkonzert in die Geschichte einging. Für das

Skandalpotenzial interessierte sich Le Corbusier überhaupt

nicht. Ihn interessierte Varèses Forschung nach

neuen, synthetischen Klangerzeugungsmitteln, die bis ins

Jahr 1916 zurückdatiert. Seine Vision war dem technischen

Entwicklungsstand um Jahrzehnte voraus. Als er 1953

den damals revolutionären Ampex Recorder in die Finger

bekam, konnte er Déserts realisieren, sein erstes Werk mit

synthetischen und akustischen Klangerzeugungsmitteln –

ursprünglich sogar als Bild-Ton-Kunstwerk angelegt. Er

träumte von einer Musik, die vollständig unabhängig von

klassischen Instrumenten entsteht. Zwar boten diese

eine enorme Klangvielfalt, doch ließen sie keine Musik

imaginieren, die sich nicht innerhalb der Grenzen ihrer

Michael Finnissy

Dem britischen Komponisten Michael Finnissy genügt für

seine Idee des Ineinandergreifens von Bild- und Klangmedium

ein Klavier. Allerdings ist der Pianist fast sechs

Stunden lang beschäftigt, wenn er Finnissys gesamten

Zyklus The History of Photography in Sound spielt, woran

sich bislang nur Ian Pace gewagt hat.

Das Rätsel, das der Titel aufgibt, ist auch nach der sechsten

Stunde nicht endgültig gelöst. Die Verbindung von Bild

und Klang geht über die filmschnittartige Kompositionstechnik

hinaus, liegt an verschiedenen Stellen verankert,

sei es, dass Finnissy musikalisch Perspektiven herstellt,

die einen bestimmten Betrachterpunkt festlegen, sei es,

dass er bildhistorische Aspekte musikalisch aufgreift und

verarbeitet. Im Kapitel Eadweard Muybridge – Edvard

Munch etwa beschäftigt ihn, wie die zwei Künstler unterschiedlicher

visueller Medien mit der Begrenzung des

Bildes umgingen, wenn sie Bewegung zeigen wollten. Bei

Munch ist es die Bewegung, die die statische Haupt figur

im Bild umgibt und die sich in deren Ausdruck spiegelt.

Der um eine Generation ältere Eadweard Muybridge

198

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!