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Festivalkatalog der Ruhrtriennale 2021-V3

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vergrämt oder getötet werden sollen. Man muss nicht einmal

die alten volkstümlichen Vorstellungen bemühen, das

heißt, ich muss nicht einmal aufstehen, um im Bücherregal

das Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens

zu bemühen, um das Miasma des Unglücks zu beschwören,

das Rabenvögel seit jeher umgibt. Bei den Germanen

wohl, wenn ich mich richtig erinnere, war es Gottesgeflügel.

Gleichgültig, das darf man sagen, sind uns Raben

nie gewesen. Immer wieder erwacht auch die Mordlust.

Ein Rabe hat sich vorzusehen, wenn ein Mensch in seine

Nähe kommt.

Das gilt auch für den zweiten Raben, von dem hier die

Rede sein soll.

DAS LEBEN

UND DAS ZUSAMMEN-

LEBEN: DAS SIND

ZWEI VERSCHIEDENE

DISZIPLINEN.

Bevor ich ihm begegnete, hatte ich einiges von ihm gehört.

Er war bekannt im Viertel. Wer mir von ihm erzählte, weiß

ich nicht mehr, aber ich erfuhr eines Tages, dass beim

neuen Gymnasium ein verrückter Vogel lebe, der jeden

angreife, der sein Territorium betrete. Das weckte meine

Neugier. Das wollte ich sehen.

Kurz nach Mittag an einem Mittwoch, es muss gegen halb

zwei Uhr gegangen sein, fand ich mich also vor dem Gymnasium

ein. Zu sehen war niemand. Der Kiesgarten lag im

kühlen Frühlingssonnenschein. Es gab einen Teich, etwas

Schilf, junge Bäume, deren Stämme noch in Sackleinen

gepackt waren und von Schwirren gehalten wurden. Das

rote Gebäude dahinter, modern, hässlich, wichtig. Hier

also sollte der Dämon leben.

War mir mulmig? Allerdings.

Hatte ich Angst?

Nein, ich war in Panik.

Aber umkehren war für einen Jungen von vierzehn Jahren

keine Möglichkeit. Da hätte es etwa einen Dobermann

gebraucht. Oder einen Hauswart mit einer Flinte. Ein

Monster. Keinen Raben.

Ich schaute mich um. Nichts zu sehen. Es war still. War

das nur dummes Gerede und ich wie ein Idiot darauf

hereingefallen? Hier gab es keine Vögel. Es gab hier keinen

bösen Raben.

Da querte auf einmal ein schwarzer Wicht den Kies,

flink, geduckt und unfreundlich. Nach drei Scheinattacken

und einer gekonnten Finte stieß er seinen

Schnabel auf meinen rechten Fuß, gezielt, beherrscht,

böse. Nur mein Schuh bewahrte mich vor einer schmerzhaften

und tiefen Wunde.

Ich wich zurück, der gefiederte Dämon verfolgte mich,

noch einen Schritt zurück und noch eine Attacke, ich

stolperte aus dem Garten, knapp am Weiher vorbei,

ich gab Fersengeld, bis wohl hinüber zum Kanal, zum

Stadion – da war ich gerettet und in Sicherheit.

Er ist der einzige Vogel geblieben, der mich je angegriffen

hat. Ich kann diese Erfahrung nicht verallgemeinern.

Schon damals nahm ich an, dass dieser Rabe einen

Schaden hatte und in seinem Kopf nicht richtig war. Ich

wusste aus einem Buch, wie Vögel im frühen Alter eine

Fehlprägung erleiden und etwa Hühnerküken einen fiependen

Fußball als Mutter annehmen konnten. Dieser

Vogel musste in ähnlicher Weise einen Knacks erlitten

haben. Aber warum die Füße? Warum nicht auf den Kopf

zielen, wenn man einen wie mich ernsthaft vertreiben

wollte? Doch was, wenn er mich eben nicht verletzen,

sondern nur vertreiben wollte? Dann wäre sein Verhalten

verhältnismäßig und damit vernünftig gewesen.

Auch dieser Rabe wusste nichts von meinen Konventionen,

von meinen Regeln, er fluchte nicht, er schimpfte

nicht, er argumentierte nicht, aber ich kann trotzdem nicht

behaupten, dass er mich nicht verstand. Es war nicht unvernünftig,

einen halbwüchsigen Naseweis hinter seine

Grenzen zu verweisen. Dies war des Raben Garten. Ich

hatte es gewusst und eins auf die Finger, nein, auf die

Füße bekommen.

Erwachsene brauchen keine Raben, sie können auf diese

Vögel verzichten. Auch wenn mittlerweile auch die Großen

begreifen, oder zu begreifen vorgeben, wie sehr jedes

Tier und jede Pflanze Teil eines Gleichgewichtes ist. Man

nennt es natürlich, aber das bedeutet nicht, dass Erwachsene

daraus ein Lebensrecht ableiten. Es braucht Raben

als Ganzes, aber diesen einzelnen Raben braucht es nicht.

Die ornithologischen Handbücher verzichten deshalb auf

Fotografien, weil diese natürlich Individuen abbilden, den

Einzelfall, also zum Beispiel Jakob, nicht das Allgemeine,

und das Spezielle muss natürlich ausgeblendet werden,

damit der Mensch eine Kategorie bilden kann. Das erfuhr

ich vor einigen Tagen im einzigartigen Delta der Verzasca.

Da stieß ich hinter einigen Silberweiden auf zwei Vogelkundler,

jeder ausgerüstet mit einem phänomenalen Fernrohr

auf Stativ. Durch dieses beobachteten sie die Piepmatze

vor ihnen im Schilfgürtel.

Da drüben ist ein Seidenreiher, meinte der eine. Er sitzt

auf dem Stück Totholz vor der Halbinsel.

Und gleich daneben ist ein Silberreiher, murmelte der andere.

Dann schwiegen sie wieder und kategorisierten weiter.

Sie sahen viele Arten, ein Tier hingegen sahen sie nicht.

Raben werden als Gruppe anerkannt, als Art, aber auf

diesen einen, diesen besonderen Raben, der mich gerade

stört, auf den mag ich gerne verzichten. Es gibt nur

den Plural, und wie groß dieser Plural ist, entscheidet das

Prinzip der konkreten Umstände.

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