Festivalkatalog der Ruhrtriennale 2021-V3
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Lieber Mats, seit vielen Jahren verfolgst du eine künstlerische
Arbeit am Gedächtnis.
Du versammelst Lebenszeugnisse ganz unterschiedlicher
Personen, hältst sie auf verschiedenen Speichermedien
fest, überführst sie in ein Archiv, das über die Jahre
wächst, inszenierst sie im Raum. Was genau treibt dich
an? Geht es dir um das, was du dem Vergessen entreißt,
oder um den Prozess des Erinnerns?
Es geht mir nicht so sehr um das Bewahren. Ich mag
den Vorgang, der sich in dem Wort Er-innern verbirgt,
einen ins Innere führenden Weg, die Beschäftigung
mit sich, seiner inneren Welt. Ich hatte mich zu Beginn
meiner künstlerischen Arbeit gegen den Begriff
der »oral history« abgegrenzt, da ich kein Historiker bin
und mein Interesse weniger der Vergangenheit als der
Gegenwart gilt. Oder besser: Mich interessiert die Präsenz
der Vergangenheit: »Was macht etwas aus früherer
Zeit heute mit mir?«
Mich leitet etwas, das wir in der Schweiz »gwundrig«
nennen, eine Neugierde, die sich mit einem Wundern
verbindet und nicht – wie dieses Wort allzu schnell im
Hochdeutschen konnotiert ist – mit einem übergriffigen
Interesse. Die Fragestellungen meiner Arbeiten beziehen
sich auf universelle Themen – Liebe, Familie,
Geschlecht, Geburt, Tod, Zeit –, die jedoch alle ihren
Auslöser in meiner eigenen Lebensgeschichte haben.
Mich nimmt wunder, wie gehen andere mit diesen
Erfahrungen um?
Vielleicht darf ich da gleich einhaken: Wie hat alles angefangen?
Du hast zuvor als Journalist und Dramaturg gearbeitet.
Wann hast du dein Selbstverständnis als Künstler gefunden?
Eigentlich war mein großer Wunsch, Autor zu werden,
ich hatte aber das Gefühl, dafür erst meinen Weg finden
zu müssen. Ich begann zu studieren und habe bald
gemerkt, dass eine wissenschaftliche Karriere nichts
für mich ist. Das Schöne an der Universität ist, dass
sie einem den Raum und die Möglichkeit gibt, sich in
etwas zu vertiefen, aber die Zwänge des Apparats sind
schrecklich. Mit Journalismus hatte ich mein Studium
finanziert, schrieb Kritiken und wurde auch nicht froh.
Ich spürte, ich möchte nicht objektiv etwas beurteilen,
sondern mich ganz persönlich berühren lassen,
und ich möchte eigentlich auf die andere Seite. Ich
habe in jener Zeit für eher unwichtige Publikationen
auch Porträts über Menschen geschrieben, die
nicht berühmt waren, Nachtwächter, Hoteldirektoren,
Versicherungsmathematikerinnen. Da hatte ich mein
Aha-Erlebnis. Sie waren dankbar, dass man sich für sie
interessiert, dass man ihren Erzählungen, ihren Erfahrungsschätzen
Wert beimisst. Plötzlich sah ich: Da ist
das Leben, hier wird es spannend. Doch im Journalismus
hat man keine Zeit, und es gibt keinen Raum für
das scheinbar Unscheinbare. Also sah ich da auch keinen
Weg für mich. Ich ergriff die Chance, am Theater
Neumarkt in Zürich als Regie- und Dramaturgieassistent
anzufangen und durfte dort, zusammen mit
der Ausstattungsassistentin, im dritten Jahr etwas
Eigenes auf die Beine stellen. Natürlich waren die
Möglichkeiten für Anfänger limitiert: Der zur Verfügung
gestellte Raum war klein, und höchstens zwei Schauspieler,
hieß es, stünden zur Verfügung. Ich hatte vom
Archiv einer Sprachforscherin erfahren, das 5000
Liebesbriefe beherbergte. Nicht von berühmten
Schriftsteller:innen, sondern von Laien, die wegen der
Liebe zu faszinierenden Autor:innen geworden waren.
Mir war klar: Diese Texte brauchen eine Vielstimmigkeit,
und so haben wir nicht nur die beiden Schauspieler
besetzt, sondern die gesamte Belegschaft des Hauses
von den Schneider:innen über das Kassenpersonal bis
zu den Techniker:innen. Alle haben Briefe eingelesen,
wir speicherten sie auf Kassetten und errichteten in
dem kleinen Raum eine »Audio-Bar«, an der sich die
Zuschauer zum Glas Wein anhand eines kleinen Katalogs
und unserer Beratung mehrere Kassetten aus
der entstandenen Hörbibliothek ausleihen konnten,
um sie vor Ort zu hören. Die Leitung des Neumarkts
fand die Idee zwar sympathisch, war aber überzeugt,
dass diese in einem Theater nicht funktionieren könne.
Ich sah das anders, mich interessiert Theater vor allem
als Ort, an dem Menschen zusammen kommen und
sich für eine bestimmte Zeit auf eine gemeinsame
Erfahrung einlassen. Wir waren dann dauernd ausverkauft
und es war vollkommen beglückend, wie die
Besucher:innen reagiert haben.
Das Projekt 5000 Liebesbriefe hat dir dann auch gleich eine
Einladung zu den Wiener Festwochen gebracht, an denen
du das Projekt weitergeführt hast. Alle deine Arbeiten
sind Langzeitprojekte, die dich über viele Jahre begleiten.
War dies von vornherein geplant?
Inzwischen ist es geplant, da es mir entspricht, längere
Zeit an einem Thema zu arbeiten, und weil es
eine wunderbare Art des Reisens ist, an neuen Orten
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