Festivalkatalog der Ruhrtriennale 2021-V3
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Was dabei auffällt, ist zunächst ein Paradoxon: Die Überbietung
durch Erhöhung der zur Bestimmung freigegebenen
Parameter der Arbeit führt gerade aus der Linearität,
der sie vorderhand zu gehorchen scheint, hinaus, hinein
in aufeinander verwiesene Dimensionen. Auch der Begriff
der erhöhten Komplexität oder andere metalineare
Beschreibungen von Steigerung greifen nicht, weil, und
das ist das andere, Erhöhung von Komplexität und Überbietung
im oben beschriebenen Sinne gerade nicht kompatibel
sind – hier sich aber begegnen. Wie das?
Es ist zunächst nicht das Geflecht von initiierten Bewegungen
und Abläufen, das den Eindruck von Überbietung
auslöst, sondern das, was jeweils in den einzelnen Abläufen
geschieht. Rapper:in, Sänger:innen, Band, Partitur
arbeiten je für sich – und das kann ich für das Projekt
D•I•E nur aus den gegebenen Infos zu Zeiten seiner noch
nicht abgeschlossenen Entwicklung extrapolieren, aber
ich weiß es von früheren Arbeiten desselben Künstlers –
und werden bzw. sind in sich bzw. für sich je lauter, drastischer,
schneller, vertrackter, intensiver. Wenn sie dagegen
aufeinandertreffen und von Codings eingehegt werden,
tendieren sie dazu, diese offensichtlichen Eigenschaften
und Reize zu verlieren: zumindest für die Wahrnehmung
des Publikums; denn dessen Aufmerksamkeit richtet sich
nun auf den größeren Zusammenhang. Nur, auch dieses
Ergebnis, das zuverlässig bei klassischen sogenannten
Gesamtkunstwerken einzutreten pflegt, entsteht bei
Wertmüller, so wie ich seine Arbeit bisher erlebt habe,
nicht dauerhaft: Die Wahl der beteiligten Genres, Traditionen,
Sozialformen und Medien vertretenden Mitwirkenden
ist so angelegt, dass die innere Logik ihrer jeweiligen
Praktiken nicht nur Überbietungs- und Radikalitätsformen
kennt, die sich leicht verselbstständigen (Lautstärke, Geschwindigkeit,
physische Anstrengung), sondern auch
dass der Steigerungsgedanke in den von ihnen vertretenen
Formen sich zuallererst asozialisieren muss, bevor
er sich eventuell wieder sozialisieren kann. Asozialität ist
hier anders zu bewerten als Dissonanz oder Dissens, sie
weicht nicht innerhalb eines gegebenen Systems möglicher
Einigung unter Bedingungen der Nichteinigung ab,
sondern hält eine solche Einigung gar nicht für möglich.
Wie verhalten sich die Ausgangspunkte zu diesen Wegen:
Rainald Goetz und Albert Oehlen haben gemeinsam ein
Buch, D•I•E1, mit Texten bzw. Gedichten und Bildern, also
Illustrationen, Zeichnungen gestaltet, das 2010 erschienen
ist. Die Gedichte von Goetz lassen sich nicht auf Themen,
Positionen, Inhalte irgendeiner Art festlegen, dennoch
(oder gerade deswegen) enthalten sie eine Vielzahl von
Konkreta in der Nähe von Eigennamen (»Ölbaron«, »Sittenstrolch«,
»Turbo«, »Madonna«), also auch die Art von
Konkretheit, die Massenmedien durch häufigen Gebrauch
einer Bezeichnung für eine bestimmte Person oder Sache
herstellen. Allerdings enthalten die Texte eine noch höhere
Anzahl an allgemeinen (»Haufen«, »Nacht«, »hoch«) oder
Shifter-Vokabeln (»dem da«, »die da«), sodass sie stets
auf einem gespannten Seil zwischen Festlegung und
Kappung der Festlegung zu schwingen scheinen.
Die Zeichnungen Oehlens können als alle drei Zeichentypen
im Sinne von Charles Sanders Peirce gesehen
werden: als Ikone (sie sehen einer Gestalt meistens abstrakt,
aber nicht immer ähnlich), als Index (sie verwiesen
spurenartig auf eine besondere körperliche Präsenz des
Künstlers) und als Symbole (sie können als Zeichen einer
Tanzpartitur verstanden werden). Der Zusammenhang
zwischen Texten und Bildern hat eine ähnliche Spannung:
Ist sie eine unbegründete Setzung ins Nichts, die von
nichts anderem als dem Entschluss der beiden Urheber
zeugt und deswegen die besondere Autorität der creatio
ex nihilo trägt? Oder handelt es sich um eine gemeinsame
Bemühung um Annäherung an ein sich vorher gegebenes
Thema, das in der vorläufigen Gestalt des Themas, des
Vorhabens, des Ziels nur den beiden bekannt ist?
Dieser extrem offenen und doch an Worte wie »Irrenanstalt«
oder »Werkstatt« gebundenen, als Partitur zu vernachlässigenden
und dann als Zeichnungen doch wieder
überpräzisen, sich als Notation anbietenden Vorgabe nähert
sich das Musiktheater, indem es nicht interpretiert, also
sich in möglicher Semantik verliert und diese dann wieder
rückübersetzt, sondern alle Teile – die Vorarbeiten Wertmüllers,
sein musikalisch-künstlerisches Gedächtnis, echte
und vermeintliche Semantik, Lesen der Vorgabe als
Sprechakte, Aufforderung, Urteil, Partitur – durch ihrerseits
extrem vorgeprägte, durch soziale Verhältnisse, Rezep tionsund
Produktionsroutinen und -traditionen zugespitzte
musikalische und darstellerische Dynamik in alle denk baren
Richtungen explodieren lässt, es dem maximal hin- und
hergerissenen Publikum überlassend, ob es die systemische
oder antisystemische Zusammenhangsbildung hinkriegt
– oder auch von ihr in einem unerwarteten Moment
hinterrücks überrascht wird. Dabei bleibt Rap Rap, Jazz
bleibt Jazz und »Irrenanstalt« und »Werkstatt« bleiben
»Irrenanstalt« und »Werkstatt«. Wie es singt und lacht.
Am 21 .4. 2008 veröffentlichte DIEDRICH DIEDERICHSEN einen
Artikel über Michael Wertmüller in der Berliner Zeitung.
Der Leser Rainald Goetz schreibt darüber auf seinem
Blog: »Komm nicht ins Offene!, rief die Überschrift der
Kulturaufmacherseite, ebenfalls hölderlinisch inspiriert,
aber heftig umgekippt ins Gegenwärtige, aus, stürze dich
in den unentwirrbaren Prozess! In jeder Zeile des Artikels
stand eine Information, von der ich noch nie etwas gehört
habe, und alles klang so, dass ich sofort gerne auch etwas
darüber wissen würde.« Diedrich Diederichsen ist Wegbegleiter,
Kritiker und Freund von Albert Oehlen, Rainald
Goetz und Michael Wertmüller. In seinem Schreiben und
Denken über ihre Arbeit sind der Maler, der Autor und der
Komponist verbunden. Seit den 80er-Jahren hat er sich
einen Namen als Theoretiker von Pop, Politik und neuester
Kunst gemacht. Er lehrt seit 2006 an der Akademie der
bildenden Künste Wien und lebt in Berlin und Wien.
1 Albert Oehlen und Rainald Goetz, D•I•E, Künstlerbuch, Berlin 2010.
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