Festivalkatalog der Ruhrtriennale 2021-V3
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Kind massakrieren könnte und damit ganze Generationen
verängstigt, die, anstatt Angst vor dem Menschen zu haben,
vor dem Großvater, dem Vater, dem Chef, dem Jäger oder
dem Nachbarn, sich daran machten, das Tier auszurotten.
Kurzum, es reicht nicht aus, die Rollen umzukehren, auch
wenn dies didaktisch sinnvoll sein kann. Aus der Sicht von
Gisèle Vienne gibt es einen subtileren, methodischeren
Weg: Man muss zunächst die Rahmenbedingungen entwirren,
auseinandernehmen, dekonstruieren und dabei
Möglichkeiten zur befreienden Neugestaltung eröffnen.
Gisèle Viennes Werk besteht also darin, die Zeit anzuhalten:
Sie will sich die Zeit nehmen, die nötig ist, um alle
Dimensionen dieses kontinuierlichen Moments zu analysieren,
in dem die Rahmenbedingungen auf uns und in uns
wirken; in dem wir nicht nur das Objekt oder die Relais
sozialer Mythen sind, sondern selber »mystifizieren«. So
können wir die Blondine bewaffnen.
Gisèle hingegen setzt auf die Aufregung und Faszination
vom guten Familienvater oder Psychopathen (der lediglich
der umgekehrte Doppelgänger ist), der in unserer Vorstellung
lauert, anstelle einer Darstellung dessen, was es
bedeutet, sich aufzulehnen, sich zu erheben, zu zerstören,
zu widerstehen, umzustürzen und sich schließlich gegen
tödliche Regimes zu wehren. Diese für ihr Schaffen so
charakteristische Auseinandersetzung wurde niemals
präziser auf ihre Methodik hin untersucht als bei Crowd
(Menge). In diesem Werk befasst sich Gisèle Vienne mit
dem Momentum der Geste, indem sie alle Ideen, alle
Emotionen, alle Darstellungen oder Erfahrungen als Bewegungsabläufe
begreift; indem sie die sozialen Beziehungen,
das politische Geflecht der Interaktionen in und
durch das choreografische Denken begreift. Es geht also
darum, die soziale und moralische Verschlüsselung dieser
Bewegungen zu reflektieren; und sie entscheidet sich
dafür, dies zu tun, indem sie den Moment einfängt, in dem
diese abgelenkt, umgelenkt, gefügig oder widerspenstig,
zurückgehalten oder betont werden; den Moment, in dem
sie im Konflikt sind, in dem wir konfliktgeladen sind. Indem
sie eine paradigmatische Szene der zeitgenössischen
Trance aufgreifen, einen Rave, der gemeinhin als nutzlose,
unproduktive, ausschweifende und unmoralische Zusammenkunft
wahrgenommen wird, eine Masse der der postideologischen,
präapokalyptischen No-Future-Generation
… indem sie das scheinbar Absurdeste aufgreift, was im
Hinblick auf die philosophische, künstlerische, kritische
und politische Bedeutung das Dürftigste zu sein scheint,
befasst sich Gisèle Vienne mit unseren körperlichen Existenzbedingungen,
mit der Unreinheit unserer Lebenswege,
der Komplexität unseres Lebens, der Ambivalenz unserer
Sehnsüchte, dem Antagonismus, der Spannung, der Krise
in der Beziehung zu sich selbst, zu anderen, zur Welt. Alles
kann schnell, ruckartig, rhythmisch sein, wie um sich besser
darauf vorzubereiten, die Bewegung in der Schwebe zu
halten. Indem man also eine Bewegung bis zum Äußersten
ver-lang-samt, geht es darum, ihre Fragilität zu verstehen,
das heißt sowohl ihre Zwänge als auch ihre Widerstandskraft,
und so ihr Potenzial wiederherzustellen; aber es geht
auch darum, ihre Macht zu verstehen: die, ein Ereignis zu
schaffen, sich auf die Realität einzulassen, sich in einer
Welt zu verwirklichen, eine Gemeinschaft zu bilden, ein politisches
Sprachrohr zu schaffen. In dieser Untersuchung
der mikroskopischen Skala des Politischen offen bart sich
eine Positivität: Sie untergräbt nicht nur die Mythen, sozialen
Konstruktionen, Normen und Disziplinen von Körpern
und Leben, Wünschen und Vorstellungen, Weltanschauungen,
sondern gibt den gelebten Dimensionen Substanz,
für die wir noch keine Worte und Diskurse, Erzählungen
und Bilder, Disziplinen und Ästhetiken haben. Aus diesen
Dimensionen, unterirdisch, okkult, komponiert Gisèle
Vienne eine Partitur, einen Chor, eine Grammatik, einen
Gedanken, ein Ritual, ein Universum. Ihr Universum, unser
Universum, ist äußerst kritisch: das routinemäßige Summen
unserer Mythen, unserer Wünsche und unserer Fantasien,
unserer genormten Existenzen, unserer Identitäten
als Verbraucher:innen, unserer massenkonsumierten,
reproduzierbaren, wegwerfbaren Identitäten, unserer demokratischen,
gedächtnislosen und selbstgefälligen, verrohten
und verrohenden Impulse … all das ist letztlich nicht der
Mittelpunkt, das Ziel der Produktion. Hierfür ist Gisèle
Vienne nicht verantwortlich. Auf der Bühne geht es nicht
darum, uns mit möglichst geringem Aufwand von unseren
Verblendungen zu befreien, in einer zeitlichen Parenthese,
in der wir in der Raumzeit der Aufführung darüber nachdenken
könnten, um uns zu entlasten, um uns zu schonen
und dann in aller Ruhe in unser »richtiges« Leben zurückzukehren.
Auf der Bühne wird eine andere Ontologie des
Lebens durchgespielt, unserer politischen Wut. Es gibt
Gesten, bei denen wir deutlich ihren unreinen, eigen
sinnigen und verlangsamten Impuls wahrnehmen; auf der
Bühne gibt es Wesen aus Fleisch, Lumpen und Silikon, es
gibt Monster, wahnhafte, halluzinierte, hellsichtige Figuren,
Auftritte von Marionetten, von Puppen. Sind die Puppen
Figuren, Stereotypen, die in Bedrängnis gebracht werden
müssen? Oder stellen sie vielmehr die Bruchstellen in der
Tragödie der Zeit dar, die unbeugsamen Widerständler
gegen die rohe Gewalt der Welt?
MAN MUSS
ZUNÄCHST DIE
RAHMEN BE DINGUNGEN
ENT WIRREN,
AUS EINANDER NEHMEN,
DEKONSTRUIEREN
UND DABEI
MÖGLICH KEITEN ZUR
BEFREIENDEN
NEUGESTALTUNG
ERÖFFNEN.
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