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Festivalkatalog der Ruhrtriennale 2021-V3

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BF: Wie kommt man darauf, solche Architekturen zu

denken? Denn wenn man es nicht gedacht hat, nicht in

Sprache gefasst und nicht »ausgerechnet« hätte, dann

könnte es da ja nicht stehen. Mich interessiert immer

dieser Transfer, wie in der Literatur. Was wir gemeinsam

gelesen haben, kommt ja aus dem Hirn von Edgar

Allen Poe und schließlich ist es in unserem Hirn. Das

Reizvolle an dieser Gegend ist die ständige Provokation,

darüber nachzudenken, was wir eigentlich tun. In

der Schweiz schürft man nicht in der Erde, man steigt

nicht hinab. Stattdessen gibt es diese merkwürdige

postkartenhafte Idylle, die sich immer weiter entfernt,

je näher man ihr kommen möchte.

Hier ist es umgekehrt: Es entzieht sich mir nicht, sondern

lockt mich und treibt mich in eine Art des produktiven

Nichtverstehens. Auf meinen Fahrten durch das

nördliche Ruhrgebiet denke ich beim Anblick all der

Ungetüme, die in der Landschaft stehen: Hier wurde

fast zwei Jahrhunderte lang in der Erde geschürft, und

jetzt werde ich geschürft. Es schürft zurück, es stöbert

mich auf und beunruhigt mich.

UCS: Für mich stellen sich diese Fragen an anderer Stelle:

Welche menschliche Energie wurde hier eingesetzt – an

Erfindergeist, an Arbeitskraft, an Menschenleben – alles

investiert, um diesen Rohstoff zu gewinnen? Ein wenig

versteht man es vielleicht erst, wenn eine Zeche dichtmacht:

Erst haben sie jede einzelne Schraube unter Tage

transportiert und hinterher wird alles, eben jede kleinste

Schraube, wieder über Tage geholt. Dieser Aufwand

ist doch im Hinblick auf die menschliche Energie unvorstellbar.

Gleichzeitig kann ich ganz prosaisch im Archiv

nachforschen, was für Profit gemacht wurde. Ich kann

das emotionslos als Verhältnis von Kapital und Arbeit verhandeln.

Aber es ist mehr. Um das andere annähernd zu

fassen, brauchen wir vielleicht die Sprache von Literatur

und Poesie. Natürlich lässt sich die Industriegeschichte in

Bruttoregistertonnen erzählen. Aber durch Literatur tun

sich vielleicht weitere Aspekte auf, sie lädt ein, anders darüber

nachzudenken.

BF: Der Kopf als Bergwerk, die Seele als Bergwerk, da

stellt sich für mich die Frage nach der Maßlosigkeit. Ist

der Bergbau an seiner Maßlosigkeit untergegangen?

UCS: Naja, der Steinkohlenbergbau ist im Ruhrgebiet nicht

an seiner Maßlosigkeit untergegangen, sondern daran,

dass er zu teuer war und zu stark subventioniert werden

musste, um auf dem Weltmarkt mithalten zu können. Und

dann ist er ja nicht untergegangen, sondern es war eine

politische Entscheidung, das Ende des subventionierten

Steinkohlenbergbaus einzuleiten.

BF: Aber das hat ja etwas mit einer Maßlosigkeit zu

tun, es sprengt etwas das Maß und dann ist es, wie

man sagt, nicht mehr rentabel.

UCS: Okay, so ja.

BF: Und diese Maßlosigkeit finde ich auch bei Poe interessant.

Wenn man ihn als Stilisten liest, forscht er

an der absoluten Grenze des Sagbaren: Alles ist unglaublich

fürchterlich oder noch schreckenerregender.

In diesem Superlativischen steckt für mich die reine

Freude an der Kunst. In der Kunst geht es ja immer

auch um Überschuss, um das Paradiesische und das

Katastrophische. Das Schöne und das Fürchterliche

sind benachbarte Zonen. Aber nicht nur in der Kunst …

UCS: Einige meiner Kolleg:innen diskutieren, dass mit

dem Ende des Bergbaus auch das Ende des Ruhrgebiets

gekommen sei. Das sehe ich anders. Da rede ich mit dem

Philosophen Roland Barthes: Zwar hat diese spezielle Ge­

Uta C. Schmidt

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