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Festivalkatalog der Ruhrtriennale 2021-V3

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sich nicht auf Notenpapier festhalten lässt. »Musikalisches

Material an sich ist mir ohnehin nicht so wichtig«,

bekennt die 1970 in Italien geborene italienisch-amerikanische

Komponistin. »Wichtig ist mir, was ich mit dem

Material mache, wie ich es durch mich hindurch filtere

und daraus einen Kompositionsprozess mache. So kann

ich meine Musik auch von den Codes befreien, die sie

stilistisch schubladisierbar machen.« Anstatt selbst musikalisches

Material zu generieren, wie das für Komponist:innen

üblich ist, begann sie daher, aufgezeichnete

Interpretationen der Werke anderer zu entkernen und zu

ihrem Material zu machen. Am Computer analysiert sie

die Obertonspektren und verarbeitet diese wiederum mit

elektronischen Mitteln, die sie oft selbst entwickelt.

Typgerechte Musik zu schreiben war ihre Sache offensichtlich

nicht. Umso mehr wurde keine typgerechte Musik

schreiben zu müssen zu ihrer Sache; damit verbunden die

Frage, wer – apropos Typ – eigentlich festlegt, wer diese

Person »ich« ist. Muss man die Bilder, die andere von

einem malen, annehmen? Sollten sie das Selbstbild beeinflussen?

Oder ist man selbst die alleinige Instanz, auch

dann, wenn keiner sie ernst nimmt? In ihrer Komposition

menus morceaux par un autre moi réunis für Gitarre und

Live-Elektronik landet der Finger direkt in der Wunde. Das

Referenzwerk sind Claude Debussys Chansons des Bilitis

in der Version für Flöten, Harfen und Celesta – eine szenische

Musik zu homoerotischen Gedichten, die Debussys

Freund Pierre Louÿs einer pamphylischen Kurtisane

namens Bilitis in den Mund gelegt und fiktiverweise als

archäologischen Fund der griechischen Archaik ausgegeben

hatte – erstaunlicherweise mit Erfolg. Die Quelle des

Befremdens: Ein Mann legt einer Frau Worte über ihren

Körper, ihre Lust, ihre Gefühle in den Mund und gibt diese

als ihr intimes literarisches Zeugnis aus, um es schließlich

von einem weiteren Mann vertonen zu lassen. Patricia

Alessandrini liebt Debussys Musik, die aus heutiger Sicht

gesehen groteske Ausgangslage dieser Komposition beantwortet

sie mit menus morceaux par un autre moi réunis

(übesetzt: »Zusammengesetzte Fragmente eines anderen

Ichs«) jedoch subtil kritisch. Sie überträgt Debussys

Les Chansons auf komplett andersartige Instrumente,

erhält aber wesentliche Klangqualitäten und -farben der

originalen Besetzung. Bei vollkommen unterschiedlichem

Material bleiben das metallische Zupfgeräusch der Harfe,

die luftdurchsetzte Klangstruktur der Flöte und das gläsern

helle Klirren der Celesta als klangliche Aura der Les Chansons

de Bilitis in Gitarre und Elektronik geisterhaft präsent.

Trotz der klaren Distanzierung vom Inhalt, den codierten

Bedeutungsträgern der Originallieder, lebt das Zerbrechlichste,

Intimste dieser Komposition in menus morceaux

weiter, als hätte sich Bilitis den Vorstellungen, die Debussy

und Louÿs in sie hineinprojiziert haben, entzogen und

bewege sich nun frei in einem anderen Raum.

Michael Wertmüller

Eine spielerisch virtuose Distanz zu codierten Bedeutungsträgern

verbindet auch drei Künstler gänzlich unterschiedlicher

Kunstformen: den Komponisten Michael

Wertmüller, den Maler Albert Oehlen und den Schriftsteller

Rainald Goetz. Mit der verbreiteten Tendenz, Kunst in

Sparten, Stile, Genres und Schulen zu unterteilen, fangen

sie wenig an. Unter dieser Prämisse entsteht auch Wertmüllers

experimenteller Opernraum D•I•E nach Texten von

Rainald Goetz und Kohlezeichnungen von Albert Oehlen,

die 2010 im Buch D•I•E Abstract Reality erschienen sind.

So wie die Texte und Zeichnungen ständig zwischen Abstraktion

und Definierbarkeit schwanken, lässt sich auch

Wertmüllers »Orchester«, bestehend aus einem Streichquartett,

einem Avantcore Hammond Trio, einer Garage-

Punk-Band, einer Elektronikerin und einer Schlagzeugerin,

auf keine musikalische Stilistik festlegen. Zwar wimmelt

es von anklingenden Stil- und Genreklischees, sie lösen

sich jedoch nie ganz ein und erweisen sich spätestens

dann als Chimären, wenn alle Ensembles zu einem gigantischen

Tuttikörper verwachsen.

Biografisch ist Michael Wertmüller als Schlagzeuger und

Komponist in Klassik, Jazz und Neuer Musik gleicher maßen

verwurzelt. Stile sprengen oder fusionieren ist nicht sein

Ziel, vielmehr sucht er den verbreiteten Kategorisierungsund

Einordnungszwang zu überlisten, damit sein Publikum

Musik so erlebt wie er: als utopischen Prozess, der aus

vielen kleinen Räumen einen riesigen Raum macht, der

sich – jedem Überlebensinstinkt entgegen – geistiger wie

physischer Begrenzungen entzieht: in transzendentaler

Virtuosität und unter Missachtung jeglicher stilistischer

Rein heitsgebote. Wer erlaubt ihm das? Seine genuine Liebe

zu diesen komplett unterschiedlichen Musikwelten, die für

ihn einerseits mehr sind als bloße Stil- und Genreschablonen,

andererseits doch nur Einzelteile eines viel umfassenderen

Musikerlebens, wo Musik zum Mittel wird, für einen Moment

den Begrenzungen des Menschseins zu entkommen.

Diese Entgrenzung geschieht in D•I•E im riesigen Raum,

der Kraftzentrale Duisburg, auf allen Ebenen: Worte treten

über die Ufer ihrer Bedeutung, durchmessen den Raum

durch multiple Körper hindurch, die die menschliche Gestalt

immer wieder verlassen. Zeichnungen schwimmen

wie Körper im offenen Raum, bewegen sich, verwandeln

sich, fließen ineinander. Den geistigen Impuls für die

Raumgestaltung griff der Szenograf Thomas Stammer von

dem legendären Architekten Le Corbusier auf, der seinen

Philips-Pavillon für die Weltausstellung in Brüssel 1958

nach einer nicht unähnlichen Vision entwickelt hatte.

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