Die Puppen stehen für dich, für mich, für euch, für uns, siesind diejenigen, die mit ihrem Blick ins Leere oder unterihre Kapuzen dennoch auf unsere Schwachstellen, unserezur Neige gehenden Reserven, unsere Abgründe undunsere Sorgen, unsere lebenswichtigen Grenzen starren:Sie sehen uns in die Augen, sie rufen uns zu. Sie sind es,die bewegungslos Bedeutungszusammenhänge, Formender Assoziation und Dissoziation von Lautbild und Begriff,Erwünschtem und Unerwünschtem verschieben, siedeuten auf Verzerrungen, Komplikationen, Behinderungen,Entstellungen, aber auch auf Erinnerungen, Erfahrungen,Möglichkeiten, die in ihnen liegen. Und dann sind sie stillund nachdenklich: Sie transportieren nicht die Stimmeder »Stimmlosen«, sondern der »Ungehörten«: jenerExistenzen, die sprechen, sich ausdrücken, kämpfen,zögern, rufen und schreien, die sich aber in der Leere, imUnwirklichen erschöpfen, die wir mit ohrenbetäubendenGeräuschen, mit der Frage »Warum?«, »beruhigenden«Worten, Ratschlägen, Urteilen, Diagnosen, Beleidigungen,Lügen, autoritären Aufforderungen zum Schweigen oderzum richtigen, angemessenen Sprechen zudecken. GisèleViennes Puppen sind so still wie der Tod und doch stelleich mir vor, wie sie Ränke schmieden: Sie organisierensich, sie reden miteinander und schließen sich zusammen,um die Unordnung zu verallgemeinern, um sie absolut zumachen, um unsere verfluchten Rollen, unsere Lebensenergienzurückweichen zu lassen, um unsere kapitalistischenFantasien, die umgebende Pornografie des Weltuntergangsund unserer quälenden Bedeutungslosigkeit,unsere Ohnmacht zu verklären – die uns ermächtigen,uns zu entlasten oder zu opfern –; dass sie unsere Rachegelüste,unsere Verweigerungen erregt, dass sie unsereWunden lindert, dass sie unsere Wahrnehmungen schärft,dass sie uns im Augenblick der Krise festhält, in der dieZukunft ausgesetzt ist, direkt vor unseren Augen: Es genügteine Geste, ein synchroner Impuls. »Es ist leichter,sich das Ende der Welt vorzustellen als das Ende desKapitalismus«, mit dieser Aussage bezog sich F. Jamesonauf die libidinöse Ökonomie des fortgeschrittenen Neoliberalismus.Mit Gisèle Vienne könnte man auch weitergehen:»Es ist leichter, sich die Tötung kleiner Mädchenvorzustellen als das Ende des neoliberalen Patriarchats.«ELAS DORLIN ist Professorin für Philosophie an der Universität Paris 8Vincennes-Saint-Denis. Sie gilt als eine der führenden französischenTheo retikerinnen der Gegenwart. Mit ihr befindet sich die KünstlerinGisèle Vienne im intensiven Austausch über ihrer beider Arbeit.Foto: Gisèle Vienne162
ALSFRAU GEBORENZU SEIN,BEDEUTETWIDERSTANDEINE INTERVIEWCOLLAGE VON ANNE BRITTINGMIT ANGELINA MIGLIETTA,ALMENDRA MENICHETTI, CONSTANZA POLONI,DANIELA LÓPEZ, FREDDERICK VÁSQUEZUND IGNACIA ATENASPAISAJES PARA NO COLOREAR / NICHT AUSZUMALENDE LANDSCHAFTENMarco Layera / Teatro La Re-SentidaJunge Triennale / Schauspiel ab 8. September 2021Siehe S. 56 _______________ www.ruhr3.com/paisajes163
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