Festivalkatalog der Ruhrtriennale 2021-V3
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
etwas zu tun hat, muss dieser eine Schlag mit der
richtigen Energie kommen, sonst zerfällt das ganze Ding.
LN: Ich unterrichte Improvisation im Klassikdepartement
der Hochschule Zürich (ZHdK). Das ist etwas
vom Allerschönsten, diesen hervorragenden Instrumentalist:innen
die Sprache der Unmittelbarkeit und
das Risikospiel näherzubringen, damit sie ihr eigenes
Vokabular entwickeln können. Musiker:innen mit Improvisationserfahrung
sind einfach besser, sie nehmen
den ganzen Raum wahr und haben eine sehr hohe Präsenz.
Sie lehnen sich nicht zurück, um irgendwelche
Noten routiniert abzuspielen, sondern haben einen
ganz anderen Impact. Die Improvisation ist etwas Ungewöhnliches
im Hochschulkontext, wo oft »richtig«
und »falsch« vorherrscht. Es ist viel schöner, mit den
Studierenden an den Fragestellungen zu arbeiten, als
fertige Lösungen zu präsentieren. Das Unvorhergesehene
zu spielen und dabei auch gar nicht »gut« sein zu
wollen, ist befreiend. Jeder hat seinen eigenen Sound.
FH: Vor hundert Jahren habe ich eine Improvisation mit
Pauline Oliveros live fürs Schweizer Radio gemacht.
Ich hatte sie vorher gefragt, was sie macht, wenn ihr
nichts einfällt. Sie sagte: »Well, I don’t play.« Und dann
saß Pauline da mit ihrem riesigen Akkordeon und ich
auf glühenden Kohlen. Es kam nichts. Nach ein paar
Minuten hat sie nur so – ffffffffff – das Akkordeon
aufgezogen. Das Instrument hat eingeatmet und es
ging los. Es braucht Gelassenheit und Selbstvertrauen
für die Freiheit im Geiste. Improvisation ist wie selber
Brot backen. Das ist einfach etwas anderes, als in der
Bäckerei eines zu holen.
JD: Und wie ist es, wenn Michael Wertmüller für Steamboat
Switzerland bäckt?
LN: Michael und ich sind schon seit unserer Zeit im
Schlagzeugregister des Schweizer Jugendsinfonieorchesters
Ende der 80er-Jahre befreundet. Er hat für
Steamboat Switzerland von Oper bis zur Trio-Literatur
schon so viele verschiedene Werke geschrieben – mit
ihm haben wir einen geistesverwandten Komponisten,
der uns herausfordert und immer wieder überrascht.
Steamboat Switzerland kombiniert die Power einer
Rockband mit der Komplexität und der Virtuosität
der Neuen Musik. Michael weiß, dass wir keine faulen
Hunde sind und uns auch unspielbares Zeugs zur Brust
nehmen. Manchmal fluchen wir auch, aber er ist kein
Komponist, der sakrosankt darauf besteht, dass alles
genau so gespielt wird, wie es dasteht. Wir wachsen
aneinander.
JD: Wie hast du das Mitwirken in szenischen Projekten als
Musiker bisher erlebt?
LN: Ich finde diese Hybridformen im Musiktheater unglaublich
spannend. Wir haben zum Beispiel am Deutschen
Schauspielhaus Valentin mit Herbert Fritsch und
Michael gemacht, das stark von Text und Schauspiel
ausging. Bei einer Opernkomposition hat der Komponist
eine andere Rolle. Das Verständnis für andere Disziplinen
und Tätigkeiten in den Künsten entwickelt sich
langsam, Kategorisierungen lösen sich auf. So wie das
Klischee, dass klassische Musiker:innen nicht grooven
und Jazzmusiker:innen keine Noten lesen können. Das
ist obsolet. Das Genre Musiktheater erfährt eine neue
Durchlässigkeit. Ich bereite meine Studierenden darauf
vor, flexibel zu bleiben und sich auf andere Territorien
einzulassen. In D•I•E geht es genau darum: um die
Auflösung von Genregrenzen. Ich freue mich total auf
diesen Clash.
JD: Michael komponiert in D•I•E für klassische Gesangsstimmen,
aber auch für eine Rapperin, eine Garage-Punk-
Band, ein Streichquartett und Elektronik. Da stellt sich
die Frage der Ausbildung nochmal in einer anderen Weise,
denn nicht alle Musiker:innen können Noten lesen oder
sind an eine:n Dirigent:in gewöhnt. Michael muss teilweise
sehr individuelle Lösungen finden, um seine kompositorischen
Ideen an die Musiker:innen zu kommunizieren.
FH: Mich haben eigentlich schon immer die anderen
Künste mehr inspiriert als die Musik selbst. Ich habe
mit Tänzer:innen, mit Schriftsteller:innen, mit Schauspieler:innen
und mit bildenden Künstler:innen gearbeitet.
Ich habe selber getanzt. Das Hybride ist eine
Grundlage meiner Arbeit. Aber es gibt auch im Prozess
oft Schwierigkeiten, weil die Erwartungen und
Bedürfnisse der Künstler:innen und ihrer Handwerke
sehr verschieden sind. Eine Tanzcompagnie muss zum
Beispiel ganz anders trainieren als ein Schauspielensemble.
Das muss man irgendwie energetisch zusammenbringen.
Zum Beispiel habe ich auf Barbaras
Proben oft tagelang nur bei der Textarbeit zugehört.
Es ging darum, diese Sprache zu verstehen, die Atmosphären
zu ergründen und dann im entscheidenden
Moment aktiv zu werden. Wir können alle enorm viel
voneinander lernen, was Intensität anbelangt.
JD: Hattet ihr schon einmal Kontakt mit dem Ruhrgebiet
oder ist das eine Erstbegegnung?
FH: Ich kenne das Ruhrgebiet von einer Bandtour aus
den 70er-Jahren. Da konnte man kaum atmen, es war
schmutzig und es gab nichts Gescheites zu essen. Es
war irgendwie eine Maloche, aber mit einer tollen Energie,
die für uns Schweizer aus dem sauberen Ländli
verwegen war. Ich erinnere mich auch an ein Konzert
im Gasometer in Oberhausen vor 20 Jahren – überwältigend!
Von der Höhe wurde mir so schwindelig, dass
ich mich am Geländer festhalten musste. Diese gigantischen
Räume sind auch akustisch toll: Du klatschst
und nach einer halben Sekunde kommt das Echo zurück.
Solche Dimensionen haben wir in der Schweiz
nicht, deshalb suche ich diese Weite im Klang, im Echo
der Kirchen, im Hall.
LN: Die Ruhrtriennale kenne ich schon von einem
Konzert in der Zeche Carl. Als Kulturschaffende machen
wir diese Orte auf eine ganz andere Weise zur Energiequelle
als die Kohleförderung, aber ihre alte Funktion
ist noch immer spürbar. Wenn man sich Weltraumbilder
ansieht, glüht das Ruhrgebiet wortwörtlich. Mich
fasziniert die dichte Besiedelung der Region – ein
kultureller Schmelztiegel. Diese Offenheit und Durchlässigkeit
so vieler verschiedener Kulturen auf engem
Raum schafft ein kreatives Umfeld.
202