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Festivalkatalog der Ruhrtriennale 2021-V3

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etwas zu tun hat, muss dieser eine Schlag mit der

richtigen Energie kommen, sonst zerfällt das ganze Ding.

LN: Ich unterrichte Improvisation im Klassikdepartement

der Hochschule Zürich (ZHdK). Das ist etwas

vom Allerschönsten, diesen hervorragenden Instrumentalist:innen

die Sprache der Unmittelbarkeit und

das Risikospiel näherzubringen, damit sie ihr eigenes

Vokabular entwickeln können. Musiker:innen mit Improvisationserfahrung

sind einfach besser, sie nehmen

den ganzen Raum wahr und haben eine sehr hohe Präsenz.

Sie lehnen sich nicht zurück, um irgendwelche

Noten routiniert abzuspielen, sondern haben einen

ganz anderen Impact. Die Improvisation ist etwas Ungewöhnliches

im Hochschulkontext, wo oft »richtig«

und »falsch« vorherrscht. Es ist viel schöner, mit den

Studierenden an den Fragestellungen zu arbeiten, als

fertige Lösungen zu präsentieren. Das Unvorhergesehene

zu spielen und dabei auch gar nicht »gut« sein zu

wollen, ist befreiend. Jeder hat seinen eigenen Sound.

FH: Vor hundert Jahren habe ich eine Improvisation mit

Pauline Oliveros live fürs Schweizer Radio gemacht.

Ich hatte sie vorher gefragt, was sie macht, wenn ihr

nichts einfällt. Sie sagte: »Well, I don’t play.« Und dann

saß Pauline da mit ihrem riesigen Akkordeon und ich

auf glühenden Kohlen. Es kam nichts. Nach ein paar

Minuten hat sie nur so – ffffffffff – das Akkordeon

aufgezogen. Das Instrument hat eingeatmet und es

ging los. Es braucht Gelassenheit und Selbstvertrauen

für die Freiheit im Geiste. Improvisation ist wie selber

Brot backen. Das ist einfach etwas anderes, als in der

Bäckerei eines zu holen.

JD: Und wie ist es, wenn Michael Wertmüller für Steamboat

Switzerland bäckt?

LN: Michael und ich sind schon seit unserer Zeit im

Schlagzeugregister des Schweizer Jugendsinfonieorchesters

Ende der 80er-Jahre befreundet. Er hat für

Steamboat Switzerland von Oper bis zur Trio-Literatur

schon so viele verschiedene Werke geschrieben – mit

ihm haben wir einen geistesverwandten Komponisten,

der uns herausfordert und immer wieder überrascht.

Steamboat Switzerland kombiniert die Power einer

Rockband mit der Komplexität und der Virtuosität

der Neuen Musik. Michael weiß, dass wir keine faulen

Hunde sind und uns auch unspielbares Zeugs zur Brust

nehmen. Manchmal fluchen wir auch, aber er ist kein

Komponist, der sakrosankt darauf besteht, dass alles

genau so gespielt wird, wie es dasteht. Wir wachsen

aneinander.

JD: Wie hast du das Mitwirken in szenischen Projekten als

Musiker bisher erlebt?

LN: Ich finde diese Hybridformen im Musiktheater unglaublich

spannend. Wir haben zum Beispiel am Deutschen

Schauspielhaus Valentin mit Herbert Fritsch und

Michael gemacht, das stark von Text und Schauspiel

ausging. Bei einer Opernkomposition hat der Komponist

eine andere Rolle. Das Verständnis für andere Disziplinen

und Tätigkeiten in den Künsten entwickelt sich

langsam, Kategorisierungen lösen sich auf. So wie das

Klischee, dass klassische Musiker:innen nicht grooven

und Jazzmusiker:innen keine Noten lesen können. Das

ist obsolet. Das Genre Musiktheater erfährt eine neue

Durchlässigkeit. Ich bereite meine Studierenden darauf

vor, flexibel zu bleiben und sich auf andere Territorien

einzulassen. In D•I•E geht es genau darum: um die

Auflösung von Genregrenzen. Ich freue mich total auf

diesen Clash.

JD: Michael komponiert in D•I•E für klassische Gesangsstimmen,

aber auch für eine Rapperin, eine Garage-Punk-

Band, ein Streichquartett und Elektronik. Da stellt sich

die Frage der Ausbildung nochmal in einer anderen Weise,

denn nicht alle Musiker:innen können Noten lesen oder

sind an eine:n Dirigent:in gewöhnt. Michael muss teilweise

sehr individuelle Lösungen finden, um seine kompositorischen

Ideen an die Musiker:innen zu kommunizieren.

FH: Mich haben eigentlich schon immer die anderen

Künste mehr inspiriert als die Musik selbst. Ich habe

mit Tänzer:innen, mit Schriftsteller:innen, mit Schauspieler:innen

und mit bildenden Künstler:innen gearbeitet.

Ich habe selber getanzt. Das Hybride ist eine

Grundlage meiner Arbeit. Aber es gibt auch im Prozess

oft Schwierigkeiten, weil die Erwartungen und

Bedürfnisse der Künstler:innen und ihrer Handwerke

sehr verschieden sind. Eine Tanzcompagnie muss zum

Beispiel ganz anders trainieren als ein Schauspielensemble.

Das muss man irgendwie energetisch zusammenbringen.

Zum Beispiel habe ich auf Barbaras

Proben oft tagelang nur bei der Textarbeit zugehört.

Es ging darum, diese Sprache zu verstehen, die Atmosphären

zu ergründen und dann im entscheidenden

Moment aktiv zu werden. Wir können alle enorm viel

voneinander lernen, was Intensität anbelangt.

JD: Hattet ihr schon einmal Kontakt mit dem Ruhrgebiet

oder ist das eine Erstbegegnung?

FH: Ich kenne das Ruhrgebiet von einer Bandtour aus

den 70er-Jahren. Da konnte man kaum atmen, es war

schmutzig und es gab nichts Gescheites zu essen. Es

war irgendwie eine Maloche, aber mit einer tollen Energie,

die für uns Schweizer aus dem sauberen Ländli

verwegen war. Ich erinnere mich auch an ein Konzert

im Gasometer in Oberhausen vor 20 Jahren – überwältigend!

Von der Höhe wurde mir so schwindelig, dass

ich mich am Geländer festhalten musste. Diese gigantischen

Räume sind auch akustisch toll: Du klatschst

und nach einer halben Sekunde kommt das Echo zurück.

Solche Dimensionen haben wir in der Schweiz

nicht, deshalb suche ich diese Weite im Klang, im Echo

der Kirchen, im Hall.

LN: Die Ruhrtriennale kenne ich schon von einem

Konzert in der Zeche Carl. Als Kulturschaffende machen

wir diese Orte auf eine ganz andere Weise zur Energiequelle

als die Kohleförderung, aber ihre alte Funktion

ist noch immer spürbar. Wenn man sich Weltraumbilder

ansieht, glüht das Ruhrgebiet wortwörtlich. Mich

fasziniert die dichte Besiedelung der Region – ein

kultureller Schmelztiegel. Diese Offenheit und Durchlässigkeit

so vieler verschiedener Kulturen auf engem

Raum schafft ein kreatives Umfeld.

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