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Festivalkatalog der Ruhrtriennale 2021-V3

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Arde brillante en los bosques de la noche (2017) erzählt

von drei Frauen mit diffusen Verbindungen zur Revolution

1917: eine Professorin, die über die Geschichte der russischen

Revolution forscht und bei einem Vortrag feststellt,

dass ihr heutiges Leben wenig mit revolutionären Gedanken

zu tun hat, eine europäische Aktivistin, die mit den

Guerillas in Kolumbien gearbeitet hat und jetzt von ihrer

Familie genötigt wird, ihre Erfahrungen in einem Workshop

für Apple CEOs einzubringen, eine TV-Journalistin, die in

der Provinz Msiones recherchiert und auf junge russische

Migranten trifft, die sich als Stripper verkaufen. Mariano

Pensotti erzählt hier in unterschiedlichen Darstellungsmitteln:

Die Lehrerin, ihre Kollegen, ihr Mann werden von

Puppen gespielt, die in einem Theater die zweite Episode

der europäischen Aktivistin und ihrer Familie sehen, an

deren Ende die Familie ins Kino geht und den Film über

die in Missiones recherchierenden TV-Journalistin sehen.

ICH HABE EINE

OBSESSION, MICH MIT

DER IDENTITÄT MEINER

GENERATION ZU

BESCHÄFTIGEN, MIT DER

KOMPLEXEN BEZIEHUNG

ZU UNSEREN ELTERN.

Das Rekonstruieren und Wiedererzählen einer Geschichte

aus der Distanz und die Perspektiven anderer ist ein

Movens in der Erzählhaltung dieses Künstlers, der immer

unterschiedliche Blickpunkte und immer die zweite Erzählstimme

schafft.

In dem großen Projekt Diamante, das er für die Ruhrtriennale

2018 in der Kraftzentrale kreierte, gingen die

Zuschauer:innen in der Geschichte vom Rise and Fall

einer Privatstadt herum und konnten die Gedanken der

Menschen, das, was gerade nicht gesagt wurde, über den

Häusern oder Fenstern lesen.

Ganz dem Blick der Zuschauer hat er ein nächstes Projekt

(2020) gewidmet. Es ist ein Film, der El Público heißt.

Man sieht einen vollen Theatersaal im Moment des Applauses,

dann sieht man ein Publikum den Saal verlassen,

auf die Straße treten. Nun folgt der Film verschiedenen

Menschen, die am selben Abend oder am nächsten Tag in

unterschiedlichen Situationen, bei der Arbeit oder privat,

von dem Theaterabend erzählen, sodass am Schluss des

Films sich die Geschichte, die auf der Bühne gespielt

wurde, zusammengesetzt hat.

Gleichzeitig entsteht über das Kaleidoskop der Menschen

und Situationen ein Porträt der Stadt Buenos Aires.

Mariano Pensotti hat einen entsprechenden Film in Athen

gedreht und vor kurzem auch in Brüssel. Die Filme aus

Buenos Aires und Athen hätten neben Los Años bei der

letzten Ruhrtriennale gezeigt werden sollen, was durch

die alternativlose Absage leider nicht stattfinden durfte.

Die Filme entstanden, als es Corona noch nicht gab. Jetzt

erscheinen die Aufhebung des unmittelbaren gemeinsamen

Erlebens und die Rezeption durch die nachträgliche

Erzählung Einzelner wie eine Antwort auf ein Jahr Pandemie.

Vor zwei Jahren hat Mariano Pensotti einen Ausflug ins

Musiktheater gemacht und an der Opéra national du Rhin

in Straßburg die in Europa recht unbekannte Oper Beatrix

Cenci des zeitgenössischen argentinischen Komponisten

Alberto Ginastera inszeniert.

Wie hat der Geschichtenerzähler das Musiktheater empfunden?

»Ich bin, wenn ich Theater mache, gewohnt, dass ich die

Geschichten schreibe. Es ist immer eine Mischung aus

Schreiben und Inszenieren.

Ich befürchtete, dass mir das fehlen wird. Dann hat es mir

aber gefallen, dass ich mich mehr auf Visuelles konzentrieren

konnte, statt mir Sorgen um die Geschichte jeder

Figur zu machen. Ich konnte ganz andere Aspekte entdecken.«

Wenn die Pandemie es erlaubt, wie er sehr hofft, wird er

im Frühsommer im gleichen Opernhaus wieder eine Tragödie

von Macht und weiblicher Biografie inszenieren;

dieses Mal eine klassische: Puccinis Madame Butterfly.

In Los Años werden die beiden Lebenszeiten eines Mannes

mit der distanzierenden Perspektive und der Stimme seiner

Tochter erzählt.

Es scheint, dass weibliche Perspektiven in den letzten

Jahren stärker in den Fokus von Pensottis Arbeiten rücken.

»Tatsächlich ist der Feminismus zurzeit die interessanteste

und stärkste Protestbewegung in Argentinien. Los

Años basiert auf dem Verhältnis zwischen Vergangenheit

und Zukunft. Das hat mich immer interessiert. Früher hat

mich beschäftigt, welche Rolle im Leben ich im Verhältnis

zu den Eltern spielen könnte. Inzwischen bin ich Vater von

zwei Töchtern und es beschäftigt mich: Was ist meine

Mission als ein Vater?«

STEFANIE CARP, Dramaturgin und Kuratorin, verantwortete von

2018–2020 das Programm der Ruhrtriennale. Die Ausgabe

2020 konnte nicht stattfinden: Die Coronapandemie war

ausgebrochen. Vier der von ihr und ihrem künstlerischen

Team programmierten Produktionen werden nun in diesem

Jahr zu sehen sein, so auch die Uraufführung von Mariano

Pensottis Los Años / Die Jahre – eine Koproduktion mit

den Münchner Kammerspielen.

Foto: Carlos Furman

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