Festivalkatalog der Ruhrtriennale 2021-V3
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Damit korrespondiert dein während der Ruhrtriennale
gezeigtes Projekt 21 auf schöne Weise mit dem Theaterstück
Los Años von Mariano Pensotti oder auch mit Mette
Ingvartsens Performance The Life Work. Ich empfinde
dich zudem als sehr sensiblen Porträtisten. Denn die geführten
Gespräche verdichtest du in einem aufwendigen
Verfahren. Aus einem gut einstündigen Gespräch bleiben
zehn Minuten übrig.
Im Sinne eines Porträtisten versuche ich das Wesen
eines Menschen herauszuschälen, so wie ich es
während des Gesprächs wahrgenommen habe. Der
Prozess dahin erfolgt tatsächlich in vielen einzelnen
Schritten. Die verbleibenden Minuten sind ein Konzentrat,
da gab es an die 150 Schnitte, die am Ende aber
nicht erkennbar sind.
Deine Arbeiten bilden ein wachsendes Archiv kollektiver
Erinnerungen und fügen sich in ein Lebenswerk, das im
Gegenschuss ein Porträt von dir zeichnet, deine Weise,
das Leben und die Welt zu betrachten. Wo führt es uns
noch hin?
Es gibt keinen Masterplan. Ein Projekt wächst aus dem
vorigen, was an der Ruhrtriennale 2021 sehr direkt zu
erleben ist, während der im vorderen Teil der Turbinenhalle
21 erstmals als vollständige Edition präsentiert
wird und ich zugleich im hinteren Teil meine neueste
Arbeit Jetzt & Jetzt beginne, die auf dem Moment der
Begegnung mit sich selbst aufbaut. Die meisten meiner
Projekte sind offen angelegt, auch für Richtungen,
die ich nicht vorhersehen kann. Bei 21 hatte ich die
klare Vision, für jedes Jahr von 1939 bis in die Gegenwart
ein bewegtes Gesicht einzufangen. Aber kaum
hatte ich zu einem Jahr ein zweites Gespräch geführt,
war mir klar, dass es noch viel stärker ist, wenn ein
Jahr aus verschiedenen Perspektiven erzählt wird. Ursprünglich
hatte ich nur das Porträt eines »Deutschen
Jahrhunderts« im Sinn. Ich hatte es 2012 in Frankfurt
begonnen und Menschen vor der Kamera sitzen, die
während der Bombardierung oder in der Zeit der RAF
21-jährig waren. Es folgte dann aber eine Residenz in
Belgrad, und dort habe ich es probehalber fortgeführt
mit Menschen, die alle dankbar waren, dass endlich
jemand sie nicht nur auf den Krieg reduziert, sondern
nach ihrem Leben fragt. Diese Erfahrung ermutigte
mich, das Verfahren von 21 auch in Südafrika zu erproben.
Erst darüber hat sich dann eine Tür zu vielen
weiteren Orten der Welt geöffnet und damit hat sich
das Langzeitprojekt auf ungeplante Art erweitert.
Allerdings waren dabei elf Jahrgänge ohne Erzählung
geblieben und nach diesen haben wir nun im Ruhrgebiet
gezielt gesucht und mitunter noch eine hundertjährige
Teilnehmerin gefunden, die von 1942 erzählen
konnte, sodass sich die ursprüngliche Vision nun nach
zehn Jahren tatsächlich erfüllt – und es ist auch das
allererste Mal, dass das Projekt in seiner wahren Größe
gezeigt werden kann …
…als lebendiger Fries in der Turbinenhalle in Bochum.
Ja, wo ich die Zeit in den Raum übersetzen kann. Die
Erfahrung dieses Projektes als Rauminstallation ist
mir ganz wichtig. Sie fordert Hinwendung und Zeit. Du
kannst dich durch Fortbewegung frei entscheiden, ob
du in die 40er-Jahre steigst oder in die Jahrtausendwende.
Du kannst aussuchen, welches Porträt du sehen
möchtest, aber es gibt keinen Vorspulknopf.
EINE MEINER
ZENTRALEN AUFGABEN
BESTEHT DARIN,
EINE FORM DER
PRÄSENTATION
ZU SCHAFFEN, DIE ES
MÖGLICH MACHT,
PERSÖNLICHES ZU
ZEIGEN, OHNE
ENTBLÖSST ZU SEIN.
Deine Arbeit wurde einmal als »künstlerische Anthropologie«
bezeichnet, »wie sie die Wissenschaft nicht leisten
kann«. Du bist ja nicht nur Sammler, Zuhörer, Porträtist,
sondern schälst heraus und inszenierst versteckte Zusammenhänge,
Verweise auf Kollektives, Gesellschaftliches.
Ist das Aufspüren dieser Verbindungen der Grund,
warum du nahezu alle Schritte alleine machen musst?
Ich habe viele großartige Mitstreiter:innen, aber das
Material muss alles durch meinen Kopf, ja. Ich kann den
Schnitt nicht an andere abgeben, da ich genau nach
diesen von dir benannten Gemeinsamkeiten suche
und dafür die Gespräche in- und auswendig kennen
muss, um sie herausdestillieren zu können. Nur in
Südafrika, in Spanien und im Kongo musste ich etwas
anders vorgehen. Ich lernte Mitarbeiter:innen vor Ort
an, die Interviews zu führen, und war als betreuender
Techniker dabei, habe allenfalls am Ende noch ein paar
Nachfragen gestellt und war dann eben beim Schnitt
involviert. Dies ermöglichte, dass die Teilnehmenden
nicht einem privilegierten Ausländer ihre Lebensumstände
zu erklären brauchten.
Du sagtest mal, du hättest zwei Sorten von Projekten. Die
langjährigen, tiefschürfenden wie Meine Großeltern, 21
oder Death and Birth in My Life (in letzterem stiftest du
Gespräche zwischen zwei Fremden über ihre Erfahrungen
mit Tod und Geburt) und kürzere, spielerische wie Feiertage,
Mein anderes Leben. Wo situierst du Jetzt & Jetzt,
das du nun beginnst und für die Ruhrtriennale 2023 entwickelst?
Dazwischen. Der erste Impuls für Jetzt & Jetzt kam mir
auf einem Spaziergang nach der Vernissage meiner
Werkschau am Centre culturel suisse in Paris 2019.
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