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Festivalkatalog der Ruhrtriennale 2021-V3

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Die Puppen stehen für dich, für mich, für euch, für uns, sie

sind diejenigen, die mit ihrem Blick ins Leere oder unter

ihre Kapuzen dennoch auf unsere Schwachstellen, unsere

zur Neige gehenden Reserven, unsere Abgründe und

unsere Sorgen, unsere lebenswichtigen Grenzen starren:

Sie sehen uns in die Augen, sie rufen uns zu. Sie sind es,

die bewegungslos Bedeutungszusammenhänge, Formen

der Assoziation und Dissoziation von Lautbild und Begriff,

Erwünschtem und Unerwünschtem verschieben, sie

deuten auf Verzerrungen, Komplikationen, Behinderungen,

Entstellungen, aber auch auf Erinnerungen, Erfahrungen,

Möglichkeiten, die in ihnen liegen. Und dann sind sie still

und nachdenklich: Sie transportieren nicht die Stimme

der »Stimmlosen«, sondern der »Ungehörten«: jener

Existenzen, die sprechen, sich ausdrücken, kämpfen,

zögern, rufen und schreien, die sich aber in der Leere, im

Unwirklichen erschöpfen, die wir mit ohrenbetäubenden

Geräuschen, mit der Frage »Warum?«, »beruhigenden«

Worten, Ratschlägen, Urteilen, Diagnosen, Beleidigungen,

Lügen, autoritären Aufforderungen zum Schweigen oder

zum richtigen, angemessenen Sprechen zudecken. Gisèle

Viennes Puppen sind so still wie der Tod und doch stelle

ich mir vor, wie sie Ränke schmieden: Sie organisieren

sich, sie reden miteinander und schließen sich zusammen,

um die Unordnung zu verallgemeinern, um sie absolut zu

machen, um unsere verfluchten Rollen, unsere Lebensenergien

zurückweichen zu lassen, um unsere kapitalistischen

Fantasien, die umgebende Pornografie des Weltuntergangs

und unserer quälenden Bedeutungslosigkeit,

unsere Ohnmacht zu verklären – die uns ermächtigen,

uns zu entlasten oder zu opfern –; dass sie unsere Rachegelüste,

unsere Verweigerungen erregt, dass sie unsere

Wunden lindert, dass sie unsere Wahrnehmungen schärft,

dass sie uns im Augenblick der Krise festhält, in der die

Zukunft ausgesetzt ist, direkt vor unseren Augen: Es genügt

eine Geste, ein synchroner Impuls. »Es ist leichter,

sich das Ende der Welt vorzustellen als das Ende des

Kapitalismus«, mit dieser Aussage bezog sich F. Jameson

auf die libidinöse Ökonomie des fortgeschrittenen Neoliberalismus.

Mit Gisèle Vienne könnte man auch weitergehen:

»Es ist leichter, sich die Tötung kleiner Mädchen

vorzustellen als das Ende des neoliberalen Patriarchats.«

ELAS DORLIN ist Professorin für Philosophie an der Universität Paris 8

Vincennes-Saint-Denis. Sie gilt als eine der führenden französischen

Theo retikerinnen der Gegenwart. Mit ihr befindet sich die Künstlerin

Gisèle Vienne im intensiven Austausch über ihrer beider Arbeit.

Foto: Gisèle Vienne

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