Festivalkatalog der Ruhrtriennale 2021-V3
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wie »Polystruktur« in die Selbstzuschreibung der Bewohner:innen
übergegangen. Warum aber wird so selten
über das geschrieben, was die Struktur zusammenhält?
Kein Netz ohne Faden. Die Ansammlung von Dörfern und
Städten würde sich längst aufgelöst und verflüchtigt haben,
wäre gar nie so entstanden, wenn diese nicht verbunden
gewesen wären und es noch sind: durch Pfade, Wege,
Routen, Bahnen, Strecken, Schienen, Flüsse, Straßen.
Alles ist verbunden. Es gibt nicht nur Siedlungen, Industrieanlagen
und Wiesen, sondern auch die Verbindungen
dazwischen. Die Verkehrswege legen sich wie ein autonomes
Netz aus Fäden über das Revier. Sie entstanden
aus der Notwendigkeit, Menschen und Waren zu transportieren.
Und wenn ich genau hinschaue, kann ich sogar
die Vergangenheit darin lesen. Die Adern, die sich aus
historischen Feldwegen entwickelten, bilden bis heute die
Grundstruktur zwischen den Kristallisationspunkten. Die
traditionelle Handelsroute, der Hellweg, ist immer noch
die zentrale Ost-West-Achse. Aber oftmals waren Wege
nicht nur verbindende Elemente zwischen den Wohnorten
und Industrieanlagen, sondern oft auch trennende
Elemente, die Zäsuren in die Landschaft brachten. Schienenwege,
Wasserstraßen und Asphaltflächen verbanden
und trennten gleichzeitig Räume – und sortierten so die
Landschaft.
Die Routen sind nicht nur die Grundstruktur, sondern auch
die Essenz dieser Region: Hier kann ich die Besonderheit
der Region erfahren und verstehen, denn nirgendwo in der
Welt kann ich stundenlang Straßenbahn fahren, ohne umzusteigen,
mit dem Bus auf der Autobahn stehen oder mit
einem ICE alle zehn Minuten stoppen. Und gleichzeitig ist
das eben die gleiche Region, durch die ich kilometerlang
mit dem Fahrrad durch Grünstreifen radeln kann, ohne an
einer Ampel zu stoppen, oder ich 60 Minuten warten muss,
bis mich die nächste S-Bahn in das andere Stadtviertel
bringt. Je länger ich im Ruhrgebiet unterwegs bin, desto
mehr scheint mir, dass es gar keine andere Möglichkeit gibt,
dieses Gelände, die Un-Stadt, diese Region zu ver stehen,
als sie zu durchstreifen, zu erlaufen und zu durchfahren.
Ich kann hier auf keinen Fernsehturm steigen, ich muss
mittendurch. Aus einem Stillstand ist hier kein Überblick zu
gewinnen. Aber sobald ich mich auf die Straßen begebe, erkenne
ich die Vielfalt der Orte, die Diskrepanz der Entwicklungen
und die Diversität der Menschen. Denn auf öffentlichen
Wegen bin ich – obwohl allein reisend – gleich immer
in Gemeinschaft. Egal, ob ich nur verstohlen über den Rand
meiner Zeitung hinweg die Jugendlichen und ihre Codes beobachte,
direkt im Gespräch mit meinen Mitreisenden bin
oder einfach nur zusammen mit anderen an der Haltestelle
leide: das Erfahren der Wege ist ein gemeinschaftliches.
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