Festivalkatalog der Ruhrtriennale 2021-V3
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Nach so viel Rückschau hatte ich das geradezu körperliche
Bedürfnis, den Blick von der Vergangenheit
abzuwenden und in die unmittelbare Gegenwart und
in die nahe Zukunft zu richten. Daraus ist einerseits
ein filmisches Spiel mit dem eigenen Spiegelbild entstanden,
zu dem nun hundert Menschen aus dem
Ruhrgebiet eingeladen sind; andererseits kehre ich mit
dieser Arbeit zur Briefform zurück und knüpfe an das
Liebesbriefprojekt an. Alle Teilnehmer:innen werden
in diesem Sommer einen Brief an ihr zukünftiges Ich
schreiben – ich werde diese Briefe aufbewahren und
2023 den Beteiligten zurückgeben und dann werden
sie nochmals einen Brief schreiben und ihrem vergangenen
Ich erklären, was seither vorgefallen ist.
Aus diesen Briefen soll ein Buch entstehen und da wir
nun für jedes Lebensjahr von 8- bis 80-jährig eine:n
Teilnehmer:in suchen, wird sich auch eine Spirale von
21 weiterdrehen. Die Verwandlung, die der Mensch in
seinem Leben durchläuft – das bleibt eigentlich mein
Herzensthema.
Zum Schluss soll nicht unerwähnt bleiben, dass du derzeit
genau das tust, was dich einst in die Kunst getrieben hat:
Du schreibst an einem Buch. Wie kam es dazu?
Ich habe auf meine Rolle zurückgeblickt als Gesprächsstifter
und Zuhörender, der sich selbst am
Ende immer zum Verschwinden bringt: In allen Interviews
schneide ich meine Stimme heraus. Ich habe gedacht,
dass es an der Zeit sein könnte, selbst einmal
hervorzutreten mit einem Teil meiner Geschichte –
und der meiner Großeltern väterlicherseits. Die Liebesgeschichte
dieser Großeltern war für mich immer ein
Faszinosum. Sie, Professorentochter, er, Bauerssohn,
ein unmögliches Paar in der Schweiz der ersten Hälfte
des 20. Jahrhunderts. Sie lernten sich 1928 in Tansania
auf einer deutschen Missionsstation kennen. Im März
2020 hatte ich mein jahrelang aufgeschobenes Vorhaben
endlich umgesetzt und besuchte den Ort ihres
Kennenlernens. Dort stieß ich zu meiner Überraschung
auf ein Archiv und auf viel mehr Spuren, als ich das je
für möglich gehalten hätte. Kurz danach wurde meine
Reise durch die Pandemie jäh unterbrochen, ich musste
das Land verlassen und konnte dann meinen Beruf,
der ja auf das Reisen angewiesen ist, nicht mehr richtig
ausüben. Anstatt all den schönen Einladungen auf
Festivals in Avignon, Adelaide, Makhanda, Milano und
Moskau folgen zu können, saß ich in meiner Berliner
Wohnung fest. Dafür sah ich die Zeit gekommen, im
Netz und in Büchern nach weiteren Spuren zu suchen
und darüber zu schreiben und so meine ›Verabredung
in der Vergangenheit‹, wie es W. G. Sebald einmal formulierte,
wahrzunehmen. Das ist aber noch nicht abgeschlossen,
ich brauche für alles, was ich von Herzen
tue, viel Zeit.
MICH INTERESSIERT
DIE PRÄSENZ DER
VERGANGENHEIT IN DER
GEGENWART.
MATS STAUB, 1972 in Muri bei Bern, Schweiz, geboren, Künstler und Reisender für Erinnerungen.
Er gehört zum Programmteam der Ruhrtriennale 2021–2023, zu deren künstlerischer
Leitung auch die Dramaturgin JUDITH GERSTENBERG gehört. Als immer wiederkehrende
Besucherin ist sie seit den Anfängen mit Mats Staubs Arbeit vertraut.
Foto: Tanja Dorendorf T+T Fotografie
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