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Festivalkatalog der Ruhrtriennale 2021-V3

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gerade befinden und die im soziopolitischen Klima zum

Ausdruck kommt. Das Stück untersucht, was geschieht,

wenn wir uns in aller Offenheit Dinge ansehen, die uns

zusetzen und die brutal und grausam sind.« Heute liest

sich 21 pornographies, uraufgeführt auf PACT Zollverein,

Essen, und koproduziert mit der Berliner Volksbühne, wie

der Prolog auf ein lang weggesperrtes Thema, das irgendwann

einfach an die Oberfläche drängen musste. Mette

Ingvartsens Geschichten über den Porno der Macht und

die sexuelle Gewalt gegen Frauen haben aufgehört bloße

Konversation zu sein. Ihre verborgene Realität ist greifbar

geworden, seit eine Serie von Missbrauchsskandalen

die deutschen Bühnenhäuser in die schwerste Sinn- und

Systemkrise hat stürzen lassen seit ihrer Erfindung.

WORAUF WIR UNSERE

AUFMERKSAMKEIT

RICHTEN, IST NICHT

NUR EINE ÄSTHETISCHE,

SONDERN AUCH EINE

ETHISCHE UND

POLITISCHE FRAGE.

Für ihre neue Arbeit The Life Work entwickelt Mette

Ingvartsen einen kontemplativen Garten, der an die Kultur

japanischer Zen-Gärten erinnert, wo sich im Zusammenspiel

von sterbender und werdender Natur ein nuancenreiches

Schauspiel entfaltet. Einer der schönsten Zen-Gärten

ist der Steingarten des 1499 gegründeten Ryoanji-Tempels

in Kyoto, der den Komponisten John Cage zu seinem Zeichenzyklus

Where R = Ryoanji (1990/91) und einer Reihe von

Musikstücken inspiriert hat. Der Garten besteht aus fünfzehn

Steinen, die in fünf Gruppen angeordnet sind, und zwar

so, dass mindestens ein Stein dem Betrachter verborgen

bleibt, ganz unabhängig davon, wo er gerade steht. Das eingeschränkte

Sichtfeld des menschlichen Auges macht es

praktisch unmöglich, alle Steine auf einmal zu sehen. Gesäumt

wird der Garten von einer mit Öl getränkten Mauer,

deren orange-rötliche Oberfläche einen deutlichen, je nach

Jahreszeit im Ton wechselnden Kontrast setzt. Staunend

tritt man dieser magischen Komposition aus Steinen und

Moos gegenüber. Ein Garten, der mit seinen entsättigten

Farben von allen Klischees und traditionellen Definitionen

befreit wirkt und in dessen herber Schönheit sich ein neues

Modell für das Sehen und Denken entdecken lässt.

Auf ähnlich fein abgestimmten Wahrnehmungsstrukturen

basiert auch The Life Work. das sich an den Grenzen des

Tanzes bewegt. In einem Zeitalter, in dem Fortschritt und

Mobilität mit dem Versprechen angetreten sind, unseren

Blick zu weiten, unser Leben reicher zu machen, erzeugt

Mette Ingvartsen über das Prinzip des Bleibens, Wiederholens

und Verringerns eine künstliche Umgebung. Das

Durchmengen von technischen und natürlichen Elementen

knüpft an ihre jahrelange Auseinandersetzung mit

flüchtigen Phänomenen und Aggregatzuständen an. Im

verdunkelten Museumsraum trifft der Besucher auf ein

dicht komponiertes Spektrum sensorischer, optischer

und akustischer Reize und Schwingungen: die wechselnde

Farbe des Lichts, die Kühle des Bodens, der Geruch eines

menschlichen Körpers, der Schatten eines sich robotisch

drehenden Baumes, die Lichtbahnen eines Scheinwerfers.

Werden die Lichtfelder von einer Person durchkreuzt,

werden die Schatten aufgenommen in das kinetische

Schauspiel. Frauenstimmen erinnern an eine Katastrophe,

ihre Ankunft in Europa, die Bilder von Fukushima und

die einsame Stille nach dem tödlichen Sturm. Wo sind die

Körper, die zu den Stimmen gehören? The Life Work (2021)

ist Mette Ingvartsens erste Museumsarbeit, ein Auftrag

der Ruhrtriennale. Anlass ist die Ausstellung Global Groove

im Museum Folkwang, Essen, die die Geschichte des

modernen Tanzes als eine Kulturgeschichte des Kontakts

erzählt. Häufig sind es Begegnungen, spontane Gemeinschaften

oder Migrationsbewegungen zwischen den

Kulturen, die neue Expressionismen in der Kunst auf

den Weg gebracht haben – jenseits politischer Grenzen,

Sprachen und Color Lines.

Worauf wir unsere Aufmerksamkeit richten, ist nicht nur

eine ästhetische, sondern auch eine ethische und politische

Frage. Erst wenn wir etwas wahrnehmen, wird es

Wirklichkeit. Es bleibt nicht länger abstrakt. Es ist ein besonderer

Glücksfall, dass die Ruhrtriennale und PACT Zollverein

im Sommer mit The Life Work und dem neuen Solo

The Dancing Public in einer Art Doppelbelichtung eine

Choreografin porträtieren, die wie eine Ingenieurin, wie

eine Umweltaktivistin, wie eine Wahrnehmungspsychologin

und wie eine Anthropologin arbeitet. Ästhetik betreibt

sie aus einer holistischen Perspektive. Im Unterschied zu

vielen Spezialist:innen blickt sie auf die Welt nicht nur

durch ein kleines Loch. Sie sucht nicht den Ausschnitt,

sondern das Panorama. Mit prophetischer Klugheit gleitet

sie von einer Werkphase in die nächste, um die Unterschiede

zwischen körperlichen, tierischen, pflanzlichen

und mineralischen Seinsweisen, die westliche Denktraditionen

nahelegen, zu überdenken. Ihr Tanz ist ein Plädoyer

für einen ›vitalen Materialismus‹, ein Begriff, den die Philosophin

Jane Bennett geprägt hat für die Vitalität unserer

Umgebung. Materie, sagt Bennett, ist nichts Passives

oder Stumpfes. Alles, was uns umgibt – das Laub im Wald,

die Steine im Garten, die Körper einer Gemeinschaft, die

Schwermetalle im Boden, die Viren, Pilze und Winde –,

alles gehört zu einer großen Kette des Seins. Wir leben in

einem komplexen und vernetzten Gefüge. Das Bewusstsein

davon sickert immer tiefer ins kollektive Bewusstsein.

Für den Tanz bedeutet das, sich seiner Freiheitsgrade

zu vergewissern und sie mit den existenziellen Motiven

dieser neuen Ökologie zusammenzuführen.

MARIETTA PIEKENBROCK, Dramaturgin und Co-Kuratorin der

Ausstellung Global Groove. Kunst, Tanz, Performance

und Protest, in deren Kontext die neue Arbeit von Mette

Ingvartsen im Auftrag der Ruhrtriennale entstand.

Foto Mette Ingvartsen: Danny Willems

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