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Festivalkatalog der Ruhrtriennale 2021-V3

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WO LIEGEN DIE

PHYSISCHEN UND

ENERGETISCHEN

GRENZEN, WIE

WERDEN DIESE REGELN

FESTGELEGT,

WIE FINDEN WIR

ZU EINER GEWISSEN

AUTONOMIE

UND FREIHEIT?

Ihr Tanz geht mit dem Faktor Zeit radikal um, sei es in

Form von Beschleunigung, von Unterbrechung oder der

Länge der Stücke … Wie funktioniert Zeit in CASCADE?

In den Spielen, dem Ausgangspunkt unserer Proben,

spielte Zeit eine wichtige Rolle: Können wir uns eine

grenzenlose Zeit vorstellen? Was fängt man mit seiner

Zeit an? Das alles ist in der Performance über eine

sehr direkte Spannung ersichtlich, die zwischen Verzückung

und Grauen, zwischen Loslassen und Kontrolle

oszilliert. Wir haben mit extremen Zeitaspekten wie Verzögerung,

Verteilung, Verlangsamung, Wiederholung,

Synchronisierung unterschiedlicher Geschwindigkeiten

gearbeitet … Ich hätte gern, dass man Zeit durch das,

was auf der Bühne passiert, als flüchtige Substanz

begreift, ein Gewebe, innerhalb dessen die Tänzer

Quantensprünge machen können. Ein starker Fokus

liegt auf der Gegenwart, im Sinne von »wir sind hier, in

diesem Moment«. Aber jenseits davon zielen die körperlichen

Dynamiken darauf ab, den Blick auf das zu

öffnen, was jenseits der Gegenwart liegt, vielleicht eine

alte Zukunft …

Wir leben in einer Phase der Ungewissheit, die vordringlich

den Körper betrifft. Ist Tanz nicht eine Kunstform, die genau

diese Ungewissheit aufzeigen kann, die den Körper berührt?

Sogar in der Ungewissheit gibt es Bewegung – Dinge,

Prinzipien, Gegenstände, Räume, die uns bewegen.

Man muss sich ihrer bewusst sein. Im Allgemeinen

versuche ich, dem zu folgen, was die Körper mir anbieten.

Das ist ein bisschen, wie wenn man das Tempo

respektieren oder vom Rhythmus abweichen muss.

Um mit diesen Abweichungen und dieser Synchronisierung

umzugehen, muss man sie spüren, sie ausprobieren,

noch einmal anfangen. Ich stelle die Frage

nach dem Wert dieser gemeinsamen Erfahrung – was

die Tänzer:innen erleben und was die Zuschauer:innen

bemerken, wenn sie ins Theater kommen. Was können

wir dadurch verstehen – und was kann diese gemeinsame

Erfahrung im Augenblick bedeuten? Tanz ist eine

Art Nähe, Kontakt zwischen Körpern. Angesichts des

Virus, das Einfluss hat darauf, wie wir uns bewegen,

wie wir von einem Ort zum anderen kommen, anderen

begegnen, müssen wir unsere individuelle und soziale

Choreografie neu erfinden.

GILLES AMALVI (*1979), französischer Autor und Tanzkritiker, führte das Gespräch mit Meg

Stuart am 16. Oktober 2020 für das Festival d’Automne, Paris, wo CASCADE nach seiner

Uraufführung an der Ruhrtriennale 2020 hätte gezeigt werden sollen. Doch diese

Aufführungen, wie auch die an vielen weiteren Stationen, mussten pandemiebedingt

abgesagt werden. Erst fast ein Jahr später, im Juli 2021, konnte die Uraufführung beim

ImPulsTanz-Festival in Wien stattfinden.

Foto: Eva Würdinger

Übersetzt von Henning Bochert

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