Festivalkatalog der Ruhrtriennale 2021-V3
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
WO LIEGEN DIE
PHYSISCHEN UND
ENERGETISCHEN
GRENZEN, WIE
WERDEN DIESE REGELN
FESTGELEGT,
WIE FINDEN WIR
ZU EINER GEWISSEN
AUTONOMIE
UND FREIHEIT?
Ihr Tanz geht mit dem Faktor Zeit radikal um, sei es in
Form von Beschleunigung, von Unterbrechung oder der
Länge der Stücke … Wie funktioniert Zeit in CASCADE?
In den Spielen, dem Ausgangspunkt unserer Proben,
spielte Zeit eine wichtige Rolle: Können wir uns eine
grenzenlose Zeit vorstellen? Was fängt man mit seiner
Zeit an? Das alles ist in der Performance über eine
sehr direkte Spannung ersichtlich, die zwischen Verzückung
und Grauen, zwischen Loslassen und Kontrolle
oszilliert. Wir haben mit extremen Zeitaspekten wie Verzögerung,
Verteilung, Verlangsamung, Wiederholung,
Synchronisierung unterschiedlicher Geschwindigkeiten
gearbeitet … Ich hätte gern, dass man Zeit durch das,
was auf der Bühne passiert, als flüchtige Substanz
begreift, ein Gewebe, innerhalb dessen die Tänzer
Quantensprünge machen können. Ein starker Fokus
liegt auf der Gegenwart, im Sinne von »wir sind hier, in
diesem Moment«. Aber jenseits davon zielen die körperlichen
Dynamiken darauf ab, den Blick auf das zu
öffnen, was jenseits der Gegenwart liegt, vielleicht eine
alte Zukunft …
Wir leben in einer Phase der Ungewissheit, die vordringlich
den Körper betrifft. Ist Tanz nicht eine Kunstform, die genau
diese Ungewissheit aufzeigen kann, die den Körper berührt?
Sogar in der Ungewissheit gibt es Bewegung – Dinge,
Prinzipien, Gegenstände, Räume, die uns bewegen.
Man muss sich ihrer bewusst sein. Im Allgemeinen
versuche ich, dem zu folgen, was die Körper mir anbieten.
Das ist ein bisschen, wie wenn man das Tempo
respektieren oder vom Rhythmus abweichen muss.
Um mit diesen Abweichungen und dieser Synchronisierung
umzugehen, muss man sie spüren, sie ausprobieren,
noch einmal anfangen. Ich stelle die Frage
nach dem Wert dieser gemeinsamen Erfahrung – was
die Tänzer:innen erleben und was die Zuschauer:innen
bemerken, wenn sie ins Theater kommen. Was können
wir dadurch verstehen – und was kann diese gemeinsame
Erfahrung im Augenblick bedeuten? Tanz ist eine
Art Nähe, Kontakt zwischen Körpern. Angesichts des
Virus, das Einfluss hat darauf, wie wir uns bewegen,
wie wir von einem Ort zum anderen kommen, anderen
begegnen, müssen wir unsere individuelle und soziale
Choreografie neu erfinden.
GILLES AMALVI (*1979), französischer Autor und Tanzkritiker, führte das Gespräch mit Meg
Stuart am 16. Oktober 2020 für das Festival d’Automne, Paris, wo CASCADE nach seiner
Uraufführung an der Ruhrtriennale 2020 hätte gezeigt werden sollen. Doch diese
Aufführungen, wie auch die an vielen weiteren Stationen, mussten pandemiebedingt
abgesagt werden. Erst fast ein Jahr später, im Juli 2021, konnte die Uraufführung beim
ImPulsTanz-Festival in Wien stattfinden.
Foto: Eva Würdinger
Übersetzt von Henning Bochert
192