Festivalkatalog der Ruhrtriennale 2021-V3
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
»Schafe haben keine Geister, denn Schafe haben keine
Seele«, schrieb Virginia Woolf in Zwischen den Akten 2,
ihrem Roman von 1941 über pastorale Festumzüge unmittelbar
vor dem Krieg. In Das Fest des Lamms 3 von
Carrington, einem Dreiakter beinah aus demselben Jahr,
verfügen Schafe über mehr Seele als Menschen, jene einsamen,
elenden Geschöpfe, deren weltliche Begierden
– nach Sex, Geld, Macht – mit regelmäßiger Brutalität
ihre Häupter erheben und zu Blutvergießen führen. Der
Faschismus war ein Ausdruck für den Machtwillen des
Menschen, aber bei weitem nicht der einzige. Ein anderer
war das Familienleben, und für Carrington reichten dessen
Erniedrigungen zurück ins Jahr 1917, als sie in England
geboren wurde. In Hazelwood Hall, dem grimmigen, gotischen
Landhaus ihrer Familie in Silverdale, Lancashire,
hatte das Textilimperium ihres Vaters seinen Sitz. Gnadenlos
und mit einem scharfen Gespür für römisch-katholische
Pietät herrschte er über seine drei Fabriken und
seine einzige Tochter. »Ich fürchtete meinen Vater mehr
als Hitler«, äußerte Carrington später. Sie hatte dunkle
Haare, dunkle Augen, war elfengleich und klug; besaß
eine unanständige Fantasie und einen schlimmen Humor;
ein kleines Mädchen, das den Nonnen, die es in mehreren
Klosterschulen nicht bändigen konnten, verhasst war, und
eine Heranwachsende, die von ihrem Kindermädchen und
ihrer Mutter Marion geliebt wurde. Marion meldete sie zum
Kunstunterricht in London an, wo Leonora dem deutschen
Surrealisten Max Ernst begegnete und sich in ihn verliebte.
Er war 19 Jahre älter als sie und verheiratet. 1936 reisten
sie zum ersten Mal nach Paris, dann zogen sie in ein kleines
Steinhäuschen in Saint-Martin-d’Ar dèche, wo sie lebten
und malten, bis die Nazis kamen und Ernst von den Franzosen
als »entarteter Künstler« interniert wurde. Verzweifelt
floh Carrington von Frankreich nach Spanien, wo sie
jenen Zusammenbruch erlitt, der zu ihrer Einweisung in
Santander führte – »in ein Sanatorium voller Nonnen«,
schrieb sie – und, nachdem sie wieder in Freiheit war, zu
den brüllenden Schafen im Zug.
NOCH BEVOR EIN WORT
GESPROCHEN WIRD,
GEBEN UNS SCHON
CARRINGTONS
REGIE-ANWEISUNGEN
ZU VERSTEHEN, DASS
MIT DIESER FAMILIE
ETWAS GANZ UND GAR
NICHT STIMMT.
Das Fest des Lamms schildert kein militärisches Drama,
sondern ein familiäres, einen grotesken Kampf um Selbstbestimmung
und Freiheit, der zeigt, dass das gewöhnliche,
bürgerliche Leben schärfere Zähne und Klauen hat, als die
Natur sich je zu erträumen wagte. Der erste Akt beginnt mit
einer Szene ähnlich dem Waggon, den Carrington in Unten
beschreibt, »ein ziemlich merkwürdiger Raum, dessen Erkerfenster
auf eine wilde, verlassene Hügelkette blickt«. Alles
in diesem Zimmer erwacht entweder gerade zum Leben oder
ist im Sterben begriffen – in Carringtons Prosa ist es ebenso
unmöglich, Lebendiges von Totem zu unterscheiden, wie
Menschen, Tiere und Gegenstände auseinanderzuhalten.
»Die Möbel stehen auf ihren Spindelbeinchen so lustlos herum
wie eine Gruppe alter Damen in Rokokounterwäsche.
[…] Die meisten Ornamente zeigen Pferde in komischen und
gequälten Evolutionsphasen.« Hier sitzt die alte Mrs. Carnis
und verschlingt eine faulig riechende Garnele mit Bohnensalat,
ihr Gesicht liegt »wie eine tote Perle blass und wertvoll«
in ihrem violettfarbenen Spitzenkragen, ihre Hände
»mit den absonderlichen Knoten und Falten« sind wie »zwei
Albino-Seesterne«. Ein lasziver, sprechender Hund namens
Henry schlüpft ins Zimmer, gefolgt von der sechzehnjährigen
Theodora, »groß und wild« mit »immenser schwarzer Mähne«.
(Die Beschreibung gemahnt an Carringtons eigene dunkle
Haarpracht in ihrem Self-Portrait (Inn of the Dawn Horse) von
1938. Als Kindsbraut wird Theodora von ihrem viel älteren
Ehemann verfolgt, Mrs. Carnis’ übellaunigem, rachsüchtigem
und Ingwerwein saufendem Sohn Philip. Wir erfahren, dass
seine erste Ehefrau Elizabeth sechs Jahre früher auf mysteriöse
Weise verschwand. Mitten im ersten Akt taucht sie
plötzlich wieder auf, funkelt alle mit »wasserblassen« Augen
an, während ihre Haare ihr Gesicht rahmen »wie die Flossen
eines Metallfischs«.
Noch bevor ein Wort gesprochen wird, geben uns schon
Carringtons Regieanweisungen zu verstehen, dass mit
dieser Familie etwas ganz und gar nicht stimmt. Endlich
sprechen sie doch, äußern aber nur schnippische Bemerkungen,
Knurren, Zähneblecken und werfen sich so
hasserfüllte wie lustige Beleidigungen an den Kopf. »Dein
Mund schmeckt wie der Käfig einer Hyäne«, sagt Theodora
zu Philip, als er sie zu küssen versucht – wobei die Hyäne
eine wiederkehrende Unheilsfigur in Carringtons Prosa
ist, angefangen mit ihrer ersten Kurzgeschichte Die Debütantin
von 1935. Mrs. Carnis’ Salon atmet die kränkliche,
klaustrophobische Intimität eines Schlachthofs, noch ehe
wir erfahren, dass jemand die Schafe der Familie ermordet.
Dies vermeldet ein Schäfer, der das Haus zweimal besucht:
zuerst am Anfang des ersten Aktes, um die Familie
zu warnen, dass jemand den Schafen die Köpfe abbeißt;
dann an seinem Ende als kopflose Leiche, die zur Tür hereinstürzt,
in seinen Armen ein kopfloses Schaf »wie eine
merkwürdige Madonna mit Kind«, schreibt Carrington.
Das Lamm, die Madonna und ihr Kind – man erkennt, wie
die Ikonen aus Carringtons katholischer Kindheit sich vor
dem Publikum aufstellen, allerdings ohne das warme Versprechen
von Gottes Liebe und Erlösung. Offen zutage
2 Leonora Carrington, Between the Acts, London 1941.
3 La Fête de l’agneau / The Baa-Lamb’s Holiday (deutsch: Das Fest des Lamms), 1940.
150